Wenn Aboud Saeed nicht gerade versucht, einem Esel den Penis abzureißen, ist er eigentlich ein ganz normaler junger Mann. Er denkt zu oft an Frauen, treibt sich zu lange auf Facebook herum, gibt zu viel Geld für Alkohol und Zigaretten aus. Man könnte glatt mit ihm befreundet sein oder ihn aus der Nachbarschaft kennen. Aboud Saeed ist aber nicht der Junge von Nebenan, sondern in einer syrischen Kleinstadt nahe Aleppo aufgewachsen. In einem Land, in dem Bürgerkrieg und Armut, Assad und ISIS nicht die Nachrichten, sondern den Alltag prägen, träumt man als Heranwachsender nicht nur von Mädchen und wilden Nächten, sondern eben auch von einem Leben, „wo die Tochter meiner Schwester ihren gekauten Kaugummi nicht auf den Fernseher klebt, damit sie ihn am Tag darauf weiterkauen kann.“ Oder davon, dass der Bruder nur kurz hätte innehalten müssen, um sich seine Zigarette anzuzünden: „Dann hätte ihn die Bombe knapp verpasst.“
„Lebensgroßer Newsletter“ erzählt nicht vom Krieg, sondern von einem Land, in dem der Krieg längst zur Normalität geworden ist. In kurzen Anekdoten, poetischen Gedankenspielen und Alltagsskizzen zeigt Saeed, wie sehr dieser die Menschen verändert, die trotz Armut und Leid weitermachen, weiter funktionieren müssen.
In den manchmal bitteren, oft aber auch leichtfüßigen und amüsanten Anekdoten liest man von lebenshungrigem Trotz und jugendlicher Großmäuligkeit. Man liest von Saeeds Unsicherheit gegenüber Mädchen und seiner Frustration, in Armut zu leben. Liest vom Versuch, einem Esel den Pimmel auzureißen und davon, was es heißt, nicht genügend Töpfe für die undichten Stellen im Dach zu haben. Liest manchmal Albernes, fast Belangloses – und dann wieder diesen einen Satz, der einem ohne Vorwarnung das Herz bricht.
Aboud Saeeds einfache und oft launige Prosa erinnert manchmal an die Texte von Poetry Slams, wäre da nicht der Kern harter, grausamer Realität, der ihnen Gewicht verleiht. Dabei kommt Saeed oft ganz ohne Pathos aus: Der Schrecken des Krieges ist fast beiläufig, weil die kleinen, privaten Tragödien inzwischen Alltag in der großen Tragödie Syriens sind. Sie sind kaum noch etwas Besonderes – und das ist die eigentliche Tragödie. Am Beispiel seiner Mutter zeigt Saeed, wie sehr der Krieg die Menschen abstumpfen lässt: Als sein Vater starb, ließ sie ein ganzes Jahr lang den Fernseher, das Radio, den Kassettenrekorder verschwinden. Beim Tod seines Bruders tat sie nichts dergleichen; sie hatte sich an das Verlieren geliebter Menschen gewöhnt.
Nach den 38 kurzen Texten, in denen man mit und über Aboud Saeed gelacht hat, ihn vor seinem inneren Auge leiden, trotzen und leben sah, glaubt man tatsächlich, ihn zu kennen wie einen guten Freund. Vielleicht ist Aboud als Mensch ganz anders und bloß ein guter Geschichtenerzähler – aber das ist am Ende vollkommen egal. Sein Buch zeigt das Leben hinter den Nachrichtenbildern und bringt uns Menschen nahe, die der alltäglichen Tragödie in Syrien einen Rest an Normalität abzutrotzen versuchen. Aboud Saeed schenkt diesen Menschen eine Stimme, die weit mehr berührt als Nachrichten über verwüstete Städte und Tote, denen mit zunehmender Dauer des Krieges immer abgestumpfter, empathieloser begegnet wird. Denn: Um wen bangen wir bitte mehr als um einen guten Freund?