Dänemark, Ende der Sechziger Jahre. Alice Horn lebt mit ihrem Mann Eric und ihren drei gemeinsamen Kindern Marie-Louise, Flora und Martin in einer hübschen Vorort-Siedlung. Nach der harten, entbehrungsreichen Kindheit der Nachkriegszeit ist Alice mit dem Eigenheim und Erics gesichertem Einkommen sehr zufrieden. Doch ihr Mann fühlt eine innere Unruhe. In einem konservativen Umfeld aufgewachsen, kommt er während der Studienzeit erstmals mit alternativen Lebensformen in Berührung. Auch die neuen Freiheiten, die sich die jungen Leute herausnehmen, findet er anziehend und so überredet er Alice dazu Neues auszuprobieren. Eric möchte nicht ausschließlich an seine Frau gebunden sein und auch sie soll nicht den alten Konventionen ausgeliefert sein. So schleift er Alice in Swingerclubs und ermutigt sie zu Affären mit anderen Männern, nicht bemerkend, dass die zarte, scheue Alice mehr und mehr mit der Situation hadert...
"Das indiskrete Leben der Alice Horn", wie der deutsche Titel heißt, beschreibt nur teilweise, wovon das Buch handelt. Denn es wird nicht ausschließlich Alices Leben beleuchtet, sondern genauso intensiv das von Eric und ihren drei Kindern, allen voran der mittleren Tochter Flora. Der auktoriale Erzählstil erlaubt es der Autorin dabei zwischen den verschiedenen Figuren hin und her zu springen und auch einen Abstecher in Alices Kindheit und Jugend zu machen. So lernt der Leser sie und ihre Familie sehr gut kennen, bekommt alle Stärken und Schwächen vor Augen geführt und nimmt Teil an ihrem komplizierten Leben.
Dieses ist geprägt von Umbrüchen und neuen Erfahrungen, mit denen die Charaktere klarkommen müssen. Die Vorort-Atmosphäre ist trügerisch, lullt sie und auch den Leser ein, doch draußen wartet die wirkliche Welt. Die, in der Studenten auf die Straße gehen um für Frieden und Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu demonstrieren. Die Welt, in der die jungen Leute alle sozialen Regeln über Bord werfen und ohne Privatsphäre in Wohngemeinschaften leben. Die Welt, in der es mittels neuer Verhütungsmethoden möglich ist, mehrere Sexualpartner zu haben und auch schon vor der Hochzeit miteinander zu schlafen.
Alice schafft es weitestgehend, diese Veränderungen auszublenden. Nicht, weil sie sie nicht gutheißen würde, sondern schlicht und ergreifend, weil sie nichts mit ihrem Leben zu tun haben. Doch Eric möchte unbedingt ein Stück von dem leckeren Kuchen namens Freiheit und pickt sich die in seinen Augen schmackhafteste Rosine heraus, nämlich die sexuelle Selbstbestimmung. Dabei ist er so sehr auf sich fixiert, dass er nicht merkt, wie unglücklich Alice mit dieser neuen Lebensform ist. Auch dass seine Kinder nicht mehr so genau wissen, was richtig und falsch ist, in welche Richtung sie ihren Lebensweg einschlagen sollen, all das geht an ihm vorbei.
Für dieses Buch sollte man sich unbedingt Zeit nehmen, denn es spiegelt das Leben der Beteiligten facettenreich und eindringlich wider. Es werden viele Bilder und Andeutungen benutzt und die verschiedensten Themen angeschnitten, von Kindererziehung über Hausfrauenpflichten und Diäten bis hin zu revolutionären Sommercamps. Außerdem werden unterschiedliche Formen des Zusammenlebens vorgestellt, die für damalige Verhältnisse neu und zunächst gewöhnungsbedürftig waren. Die Einbindung zeitgenössischer Themen und Ereignisse trägt ungemein zur Authentizität bei, sodass ich mich beim Lesen tatsächlich in jener Zeit wiedergefunden habe.
Ich kann "Das indiskrete Leben der Alice Horn" allen empfehlen, die gerne Geschichten aus dem wahren Leben lesen und sich für die Zeit zwischen 1969-1972 interessieren. Zwar sind die knapp 700 Seiten nicht immer leicht und flüssig zu lesen, aber die durchdachte Handlung und die Tiefe der Protagonisten sind es allemal wert.