Cover des Buches Golem und Dschinn (ISBN: 9783455403671)
Rezension zu Golem und Dschinn von Helene Wecker

Grandioser Anfang, LANGatmiger Mittelteil, fesselndes Ende

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 10 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 10 Jahren
Otto Rosfeld ist ein einsamer, unglücklicher Mann, der sich nichts mehr an seiner Seite wünscht als eine einfache Frau. Da die weibliche Welt sich allerdings herzlich wenig für ihn interessiert, gibt er kurzerhand einem Rabi den Auftrag, ihm eine intelligente und neugierige Golem-Frau zu erschaffen - ein Wesen aus Lehm, das ohne Widersprüche die Wünsche ihres Meisters erfüllt. Als das Wunder vollbracht ist, nimmt er den noch leblosen Golem mit an Bord nach Amerika, kommt aber schon kurz nach ihrer voreiligen Aktivierung ums Leben. Von diesem Moment an ist die frisch geborene Golem-Frau in einer für sie fremden Welt völlig auf sich alleine gestellt.
Zeitgleich wird ein Dschinn, ein Mann aus Feuer, der für mehrere Jahrhunderte in einer verbeulten Kupferflasche eingesperrt war, von einem Schmied beim Ausbessern des Familienstücks befreit. Durch seine lange Gefangenschaft hat er das meiste aus seinem alten Leben vergessen, erinnert sich aber noch an einen alten Hexer, der ihn vor langer Zeit durch eine Eisenschelle an die Gestalt eines Menschen gebunden und ihn in die Flasche verbannt hat.
Sowohl Golem als auch Dschinn müssen versuchen, ihre wahre Identität mit allen Mitteln zu verbergen und sich den neuen, ungewohnten Lebensbedingungen anzupassen, um im New York des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht aufzufallen.

Die Charaktere in "Golem und Dschinn" sind durchweg gelungen gestaltet und jeder auf seine Art faszinierend. So werden nicht nur die Protagonisten aufwendig gezeichnet, sondern auch sämtliche Nebenpersonen mit ihrer Lebensgeschichte eingeführt. Statt die Gesamterzählung zu unterbrechen, bereichern diese Einschübe sie und werden im weiteren Verlauf der Geschichte wieder aufgegriffen.
Der Kontrast zwischen den Hauptcharakteren sorgt für eine interessante Ausgangssituation und Abwechslung, denn während Chava, der Golem, passend zu den Eigenschaften ihrer Spezies, eher schüchtern und unterwürfig ist, liebt Ahmad der Dschinn seine Freiheit, wird von seiner Neugierde gesteuert und von seiner Ungeduld beeinflusst.
Damit zusammenhängend hätten auch die Wahl von Ort und Zeit der Geschichte sowie die zahlreichen Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse nicht passender sein können, denn Chava eckt als körperlich starke, neugierige und tollpatschige Frau in der unemanzipierten Welt leicht an und auch Ahmad hat durch sein feuriges Inneres, seine Implusivität, seine Leidenschaft und seine Liebe zu Freiheit und Gefahr große Schwierigkeiten beim notwendigen Versteckspiel.

Obwohl beide Wesen alten Legenden und der Phantasie entspringen, wirken sie von Beginn an sehr überzeugend. Da die beiden zwar menschliche Eigenschaften haben, aber an vielen Stellen aus menschlicher Sicht wenig nachvollziehbar handeln, entsteht allerdings schnell das Problem, dass sich eine gewisse Distanz zu den Hauptcharakteren aufbaut. Das kann dazu führen, dass man einem Teil des Buches lieber folgt oder sich dahingehend steigern, dass man den anderen kaum genießen kann. Mir persönlich erschien der Golem oft zu unterwürfig und eintönig, während ich den eigenwilligen Charakter des Dschinns mit großem Interesse verfolgt und mir einige Male gewünscht habe, das Buch würde sich nur um ihn drehen. Da die Erzählperspektiven in den einzelnen Kapiteln immer wieder wechseln, kann es so passieren, dass man regelmäßig aus interessanten Szenen herausgerissen wird.

Der Stil des Buches ist ausgezeichnet. Ohne zu dick aufzutragen, entstehen wundervolle Bilder und eine dichte Atmosphäre, die Dialoge wirken durchgehend authentisch und sprachlich gesehen ist es leicht zu lesen, ohne oberflächlich zu wirken.

Insgesamt wirkt "Golem und Dschinn" mit seinen 623 Seiten sehr gestreckt und weist vor allem im Mittelteil zahlreiche Längen auf. Zu Beginn ist die Einführung von Personen, Orten und Grundstimmung noch sehr gelungen, doch bis zu einem lang ersehnten, entscheidenden Ereignis vergehen mehr als 200 Seiten, nur um anschließend die Spannung wieder für ähnlich viele Seiten herunterzufahren. Im letzten Drittel überspitzen sich die Ereignisse, fesseln ungemein, können aber kaum über die gähnende Leere zuvor hinwegtäuschen. Diese extreme Streckung ist sehr schade, da der Roman an sich sowohl inhaltlich als auch von den Charakteren, der Atmosphäre und dem Stil her grandios ist.

(Wegen dieser Langatmigkeit, die mich das Buch oft zur Seite legen lassen hat, und einigen anstrengenden charakterlichen Entwicklungen gebe ich abgerundete 3,5 Sterne, aber auch eine klare Leseempfehlung an all diejenigen, die nicht nur offen sind für eine interessante Mischung aus historischem Roman und Fantasy, sondern darüber hinaus auch mehr Geduld aufweisen als der Dschinn. ;))
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