Cover des Buches Die italienischen Schuhe (ISBN: 9783552057944)
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Rezension zu Die italienischen Schuhe von Henning Mankell

Ernste Fragen nach Schuld und Vergebung, Alter und Einsamkeit

von WinfriedStanzick vor 8 Jahren

Rezension

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WinfriedStanzickvor 8 Jahren


„Mit diesem Buch zeigt sich Henning Mankell inhaltlich und sprachlich von einer völlig neuen Seite. Nachdem nun auch der letzte Fan wohl akzeptiert hat, dass er seine Wallander-Serie nicht fortsetzen wird, auch nicht mit dessen Tochter Linda und ihrem Freund, ist es wohl an der Zeit, die anderen Bände Mankells mehr zu würdigen und endlich von den Vergleichen mit den alten Bänden Abstand zu nehmen. Sein Anfang 2007 veröffentlichter letzter Afrika-Roman "Die flüsternden Seelen" war im Original schon 1999 in Schweden aufgelegt worden , sodass es sinnvoll ist, das hier vorliegende Buch in der Abfolge der Romane "Tiefe" (2005) und "Kennedys Hirn" (2006) zu lesen. Hatten die beiden letzten Romane noch viel gezeigt vom zornigen Henning Mankell, der sich einfach nicht abfinden kann mit den zum Himmel schreienden Zuständen auf der Welt, schlägt er in "Die italienischen Schuhe" einen Ton an, der neu für ihn ist.“ (Aus meiner Rezension 2007)

Nun legt Zsolnay das Buch 2016 noch einmal neu in einer HC- Ausgabe, gleichzeitig mit dem Erscheinen von Mankells letztem Buch „Die schwedischen Gummistiefel“, das man als eine Art selbstständige Fortsetzung des hier neu veröffentlichten Buches lesen kann.

Such hier sind fast alle Protagonisten eher Außenseiter und Gestrandete einer immer schneller und menschenverachtender werdenden Gesellschaft, aber sie sehen sich nicht als Opfer, sondern versuchen aus ihrer Situation etwas mal mehr oder auch mal weniger Kreatives zu machen.

Es ist ein Buch der eher kleinen Töne, das sprachlich auf sanften Füßen daher kommt und den Leser mitnimmt auf eine Reise, bei der er es nicht verhindern kann, dass er sich betreffen lässt von der Thematik. Es geht um das Altwerden, um das Alleinsein im Alter. Es wird erzählt vom verpassten und verlorenen Leben, es handelt von der Frage, ob es so etwas wie Vergebung geben kann, die einem auch kurz vor dem Lebensende noch einmal neues Leben schenken kann. Es geht um die gewährte Gnade einer zweiten Chance nach großen und unwiderruflichen Lebensfehlern. Das Buch erinnert an den ebenfalls in der Hanser/Zsolnay Gruppe 2006 erschienenen Roman "Pferde stehlen" von Per Petterson. Ähnlich wie Petterson entführt auch Mankell seine Leser in äußere und innere Landschaften, die ihn, wenn er es zulässt, verändert zurückkehren lassen. Beide Bücher klingen lange nach, stoßen im Leser Biographisches an und fordern seine existentielle Aufmerksamkeit und Präsenz. Beides übrigens Kennzeichen wirklich guter Literatur.

Fredrik Welin, mittlerweile 66 Jahre alt, war lange Jahrzehnte ein erfolgreicher Chirurg, bevor etwas, was er zunächst nur die Katastrophe" nennt, seiner beruflichen Karriere ein selbst gewähltes Ende setzt. Er hat bei der Amputation des Armes einer jungen und sehr erfolgreichen Schwimmerin den falschen entfernt. Voller Schuldgefühle zieht er sich auf eine Insel in den Schären zurück, wo er mit seinen Großeltern schon Teile seiner Kindheit verbrachte. Er lebt dort einfach, hat nur Kontakt mit dem Postzusteller Jansson, den er auch immer wieder einmal als Arzt behandelt. Er erwartet nichts mehr, dennoch quält ihn die Schuld von damals, als eines Tages um die Wintersonnenwende eine alte Frau mit einem Rollator vor seinem Haus steht. Es ist Harriet, die einzige große Liebe seines Lebens, die er vor fast 40 Jahren unter ziemlich schändlichen Umständen verlassen hat. Harriet ist todkrank, ein unheilbarer Krebs zerfrisst sie von innen.

Neben einer Antwort auf ihre nach wie vor wütende Frage, warum er sie damals verlassen hat, verlangt sie von ihm die Einlösung eines damals gegebenen Versprechens: er soll mit ihr an einen einsamen Waldsee in Nordschweden fahren, wo er selbst in seiner Kindheit mit seinem Vater war. Sie brechen mitten im Winter dorthin auf und erleben unterwegs eine Menge von Begegnungen. Unter anderen lernt er den über 90-jährigen italienischen Schuhmacher Giancionelli kennen, der jedes Jahr nur zwei Paar Schuhe herstellt und Fredrik ein Paar verspricht, die er ganz Ende auch erhält. Fredrik erfährt, dass er eine Tochter hat, die in einem Wohnwagen wohnt und seit Jahren Briefe an die Staats- und Regierungschefs der Welt schreibt und sie auf Missstände hinweist.

Fredrik Welin begreift das Geschenk und die Gnade dieser zweiten Chance in seinem Leben, und bleibt nach seiner Rückkehr auf seine Insel sowohl mit Harriet als auch mit seiner Tochter Louise in Kontakt. Und er nimmt Kontakt auf zu Agnes, der Frau, an deren Arm er vor Jahren den verhängnisvollen Fehler beging, der seiner beruflichen Tätigkeit ein Ende setzte.
Er trifft sie und lernt eine Frau kennen, die ihr Lebensschicksal auf bewundernswerte Weise gemeistert hat, und die sich Mädchen angenommen hat, die jeder andere schon abgeschrieben hat.

Fredrik Welin, der die ganze, sich von einer Wintersonnenwende zur nächsten über ein Jahr hinziehende Geschichte selbst erzählt, stellt sich seiner Schuld und seiner Lebenslüge und am Ende kann er, eine Notiz seiner mittlerweile verstorbenen Harriet aufgreifend, in sein Logbuch notieren:
"Bis hierher sind wir gekommen. Nicht weiter. Aber bis hierher."

Henning Mankell hat ein stilles, aber nicht minder
engagiertes und bewegendes Buch geschrieben über Erfahrungen und Auseinandersetzungen des letzten Lebensabschnittes. Ob junge Menschen, die von seinen Wallander- Romanen begeistert waren, die neue Stimme Mankells hören wollen, oder überhaupt können, sei dahin gestellt.
Aber wer bereit ist, sich ernste Fragen nach Schuld und Vergebung, Alter und Einsamkeit zu stellen, wird von diesem Roman außerordentlich für sich selbst profitieren.


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