Cover des Buches Herztier (ISBN: 9783596175376)
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Rezension zu Herztier von Herta Müller

Rezension zu "Herztier" von Herta Müller

von VOWI vor 14 Jahren

Rezension

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VOWIvor 14 Jahren
„Puh“ - das war mein erstes Resumée, nachdem ich die letzte Seite umgeschlagen und das Buch zur Seite gelegt hatte. Ein sehr ungewöhnliches Buch. Faszinierend. Nachdenklich machend. Zur Verzweiflung bringend. Bevor ich das erkläre, jedoch zunächst ein Wort zum Inhalt. Die Protagonistin erzählt aus einer Zeit in den 80er Jahren, als Rumänien hinter dem eisernen Vorhang unter der Diktatur von Ceausescu stöhnt. Elend und die Angst vorm Staat haben die Menschen fest im Griff. Das einfache Volk spaltet sich in diejenigen, die das Regime unterstützen, diejenigen, die sich mit dem Regime arrangieren, und diejenigen, die das nicht können. Die Erzählerin gehört zur letzten Gruppe. Sie studiert Sprachen und wohnt zusammen mit einigen anderen Mädchen zusammen in einem Zimmer. Die systemkritische Erzählerin trifft im Verlauf ihres Studiums drei junge Männer, die ähnlich wie sie denken. Zusammen lesen sie verbotene Bücher und schreiben Gedichte. Das nicht systemkonforme Verhalten der vier bleibt nicht unbemerkt. Schon bald folgen erste Verhöre durch Hauptmann Pjele, der im Buch das Regime verkörpert. Nach dem Studium bleibt nur die Erzählerin in der Stadt, hält aber mit den anderen über Briefe mit verschlüsselten Botschaften Kontakt. Eine skurrile Kommunikationsform entwickelt sich. Kommas anstelle von Ausrufezeichen sind Morddrohung und keine bloßen Satzzeichen mehr. Stück für Stück zieht sich das Netz der Securitate enger. Es folgen Durchsuchungen in den Elternhäusern und Verleumdung im Bekanntenkreis, schließlich das berufliche Ende. Immer wieder hört man fast beiläufig von Flüchtlingen, die die Grenze zur vermeintlichen Freiheit überqueren wollen und dabei umkommen. Verzweiflung und Angst der vier Freunde steigern sich bis zur drohenden Resignation und Selbstaufgabe - Selbstmordgedanken kommen auf. Wem kann man trauen? Am Ende stehen Paßbeantragung und Ausreise nach Deutschland, die zwei der Freunde in Deutschland mit dem Leben bezahlen - ob Mord oder Selbstmord wird nicht aufgeklärt. Im ersten Moment steht man einem dichten Gewirr aus teilweise fast kindlich anmutenden Metaphern, Gedankensprüngen und Satzkonstrukten gegenüber, die teils unverständlich daherkommen, teils aber auch auf geniale Weise Empfindungen vermitteln, wie man es mit erzählenden Texten kaum erreichen könnte. Herztier ist kein bloßer Roman, der eine Geschichte erzählen will. Vielmehr - und das ist das eigentlich Außergewöhnliche - vermittelt er Satz für Satz ein Gefühl für die gesamte Situation. Jede Metapher, selbst wenn man nicht auf Anhieb weiß, wie sie in den Sinn passt, vermittelt ein Gefühl. Da werden Streichhölzer in Streichholzschachteln zu Menschen in Särgen, aufgebrochene Nüsse zu eingeschlagenen Köpfen und arrogant staksende Pferde zu Pferden mit Stöckelschuhen. Die Umwelt sieht nicht nur aus, sie schmeckt, riecht und fühlt sich an. Auf mehreren Ebenen beschrieben entdeckt man keine erzählte Welt sondern einen gefühlten („Lebens-“) Raum, der die Verzweiflung und Not der Menschen unter Ceausescu widerspiegelt. Alles in allem wirklich ein beeindruckendes Buch, das ich allerdings nur Lesern empfehlen würde, die eine Affinität für metaphernreiche Texte haben. Es handelt sich auf keinen Fall um leichte Kost, die „so nebenbei mal“ gelesen werden kann. Viele Dinge stehen nur zwischen den Zeilen, was bei unaufmerksamem Lesen zwangsläufig zum Nichtverständnis führt, womit wir bei der zu Beginn angesprochenen Verzweiflung im Angesicht des Textes wären. Trotz der Einschränkung ein sehr lesenswertes Buch also, das weit mehr gibt als nur eine bloße Geschichte - sofern man die Geduld aufbringt, sich darauf einzulassen.
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