Cover des Buches Zerbrechlich (ISBN: 9783404166985)
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Rezension zu Zerbrechlich von Jodi Picoult

Hier zerbricht alles (Achtung: Spoiler)

von Schokolatina vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Ich habe nie so viele Taschentücher bei einem Buch verbraucht

Rezension

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Schokolatinavor 10 Jahren
Kurz zum Inhalt:
Charlotte und Sean haben zwei Töchter. Willow ist eine davon. Sie ist sechs Jahre alt. Sie hat OI, die Glasknochenkrankheit, sprich: sie bricht sich ständig die Knoch, wenn sie nur hinfällt oder zu stark irgendwo dagegen prallt. 78 Mal hat sie sich bisher die Knochen gebrochen, davon schon 10 Mal im Mutterleib. Willow ist eine Kämpferin und sie ist sehr schlau. Sie ist ein zauberhaftes Kind und zuckersüß. Und sie beneidet ihre große Schwester, die wie eine Elfe Eislaufen kann.
Aber: Willows Geburt hat das gesamte bisherige Leben ihrer Familie komplett umgekrempelt. Charlotte kann nicht mehr als Konditorin arbeiten, Amelia, die Schwester, kommt emotional zu kurz, die Mutter strampelt sich ab, um eine perfekte Mutter für ihre kranke Tochter zu sein, der Vater strampelt sich in Zusatzschichten als Polizist ab, weil das Geld vorne und hinten nicht reicht, weil die Krankenkasse nicht alles bezahlt, weil durch ständig neue Knochenbrüche ständig neue Probleme entstehen. Mit einem Spreizgips muss das Kind einen anderen Autositz bekommen, den die Krankenversicherung aber nicht zahlt.
Kurzum, die gesamte Familie leidet, obwohl sie alle Willow lieben.
Nach einem Unfall in einem Diner wollen die Eltern zuerst das Diner wegen einer Serviette auf dem Boden verklagen, auf der Willow ausgerutscht ist, aber die Anwältin Alison findet eine Klage auf ärztlichen Kunstfehler bei pränataler Diagnostik und einem fatalen Interpretationsfehler dabei vielversprechender. Einziger Haken: Die Gynäkologin ist Charlottes beste Freundin Piper.


Meinung:
Anfangs war ich etwas skeptisch, ob ich mir das wirklich antun will, solch ein Buch zu lesen, ob ich wirklich über ein behindertes Kind lesen will und wie die Mutter dann gegen die Ärztin klagt, um Schadensersatz wegen „ungewollter Geburt“ zu bekommen.

Kurz und gut, ich hab’s dann gelesen und bin immer noch völlig aufgewühlt.

Es geht gar nicht so sehr um die „ungewollte Geburt“ oder eine Abtreibungsdiskussion in diesem Buch. Es geht darum, dass Menschen an solchen Schicksalen zerbrechen.

Jodi Picoult hat dieses Buch so geschrieben, als ob die Protagonisten nacheinander Willow die Geschehnisse aus ihrer Sicht beschreiben. Der Leser ist in der Rolle von Willow und wird mit „du“ angesprochen, als ob man an Willow gerichtete Briefe lesen würde.
Charlotte berichtet darüber, wie ihr das Herz bei jedem Knochenbruch von Willow zerreißt und man kann sehr gut mit ihr mitfühlen, warum und wieso sie zu solch einer Übermutter geworden ist, diesen übermäßigen Beschützerinstinkt hat.
Sean leidet darunter, dass er ständig von Charlotte ermahnt wird, ja nur vorsichtig zu sein. Auch er liebt Willow von ganzem Herzen und er will für das Mädchen der Fels in der Brandung sein, als die Mutter klagt. Schließlich muss Charlotte vor der Jury verkünden, dass sie ihre Tochter nicht liebt. Und er kann und will da nicht mitziehen. Willow soll sich unbedingt geliebt fühlen.
Piper – die Freundin und verklagte Ärztin – kommt auch zu Wort. Die Rechtsanwältin, die als Adoptivkind ihre leibliche Mutter sucht und dann natürlich die Schwester – Amelia.

Und es waren tatsächlich immer wieder Amelias Kapitel, die mich am meisten berührt haben. Was definitiv daran liegt, dass ich so gut mit ihr mitfühlen konnte, genau wusste, wie sich Geschwister von behinderten Kindern fühlen, wie sehr ausgeschlossen von aller Aufmerksamkeit, wie sehr diese ständigen Ermahnungen, doch mal zurückzustecken, nur ja vorsichtig zu sein etc. nerven. Diese unterschwellige Erwartung, am besten unsichtbar zu sein und nur ja keine Forderungen oder Wünsche zu äußern.
Amelia wird in der Story krank, mit Kleptomanie, Bulimie und schneidet sich auch, entwickelt also eine massive Borderline-Störung. Und keiner merkt es. Weil alle mit Willow beschäftigt sind.
Dieses Verlangen von Charlotte, Amelia möge ihren Wunsch nach einem normalen Leben aufgeben, weil Willow auch keines haben könnte, der ist mir echt an die Nieren gegangen, ich habe meine Mutter gehört und gefühlt.
Natürlich liebt Amelia ihre Schwester. Aber: eben weil sie sie nicht als Behinderte behandelt, gibt sie ihr ein Stück Normalität.

Den Kunstgriff mit den verschiedenen Erzählern fand ich großartig, weil gerade die vielen verschiedenen Motive und Absichten der Figuren so deutlich wurden. Weil auf diese Art die vielen vielschichtigen Gefühle dargestellt werden konnten.
Dadurch entstanden auch die verschiedenen Aspekte dieser Story. Die verratene Freundschaft der beiden Frauen, die Schuldgefühle von Sean, der denkt, dass er Willow die Krankheit vererbt hat, Charlottes Klage und wie sie mit dem Ruf, eine eiskalte Abzockerin zu sein, in der Kleinstadt umgeht, wie sehr ihr das zusetzt, Amelia, die sich ungeliebt, abgelehnt, überflüssig, gehasst fühlt und es nicht sagen kann. Dazu die Anwältin, die auf der Suche nach ihrer Mutter ist und lernen muss, dass nicht alle Adoptivkinder im erwachsenen Leben auf eine superglückliche leibliche Mutter treffen, die eine Wiedersehensparty schmeißt.


Das die Backrezepte dazwischen sollten, hm… vielleicht sollten sie die Gefahr eines Zussammenfallens, wie bei einem Soufflé symbolisieren… Charlotte ist Konditorin, es sind Profitricks dabei, aber letztendlich… Ein Rezept zu lesen, während man darauf brennt, wie die Story weitergeht. Das war irgendwie wie Notbremse und für meinen Geschmack völlig unnötig

Ganz gruselig fand ich das Ende. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Jodi Picoult weder eine glückliche Familie mit Geld darstellen wollte, die es durch den Schadensersatz endlich geschafft hat, allen ein einigermaßen bequemes Leben zu geben, noch eine Familie, die komplett an dem Wunsch nach Entschädigung und dem Geld zerbrochen ist und nur noch Trümmer hat und Schulden. Mut machender für jeden, der von Krankheit oder Gesellschaft behindert wird, hätte ich es gefunden, wenn Willow noch lange in den Genuss von dem Geld gekommen wäre.

Einen Denkfehler habe ich in diesem sonst so großartigen Buch gefunden:
Wenn der Scheck uneingelöst am Kühlschrank hängt: Von was bitte haben Sean und Charlotte denn bloß die Anwältin bezahlt? Ganz am Anfang wird nämlich erklärt, dass sie einen Anteil von der Schadensersatzsumme bekommt. Und – wie in den USA – üblich, ist der gewaltig hoch, 10 – 30 %.


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