Cover des Buches Die Straße der Geschichtenerzähler (ISBN: 9783827012289)
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Rezension zu Die Straße der Geschichtenerzähler von Kamila Shamsie

Ein bewegende Zeitgeschichte

von BuchNotizen vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Es ist ein außergewöhnliches Buch mit politischen Aspekten und einer überzeugenden und fesselnden Zeitgeschichte, die zum Nachdenken anregt.

Rezension

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BuchNotizenvor 9 Jahren

Kamila Shamsie hat mit „Die Straße der Geschichtenerzähler“ einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, der sich mit der britischen Kolonialzeit auseinander setzt. Genau genommen mit der britischen Herrschaft in „Britisch India“, dem heutigen Pakistan. Es ist eine Geschichte über Liebe und Verrat, Unterdrückung und Streben nach Freiheit.

Der Klappentext weckt jedoch andere Erwartungen an das Buch: antike Ausgrabungen, exotische Welten und die Geschichte einer großen Liebe. Dieses Buch ist jedoch alles andere, als ein romantischer Liebesroman. „Die Straße der Geschichtenerzähler“ ist für mich ein in Romanform geschriebenes Sachbuch. Das Grundgerüst sind historische Ereignisse während des Ersten Weltkrieges und das Streben der Paschtunen nach Freiheit.

Ich vermisse in diesem Buch einen Anhang mit einer Karte und geschichtlicher Zusammenfassung der Ereignisse in Pakistan. Ein Glossar mit Erklärungen fremder Ausdrücke fehlt genauso, wie eine Zeittafel. Die vorhandene Information ist zu kurz und betrifft nur die Nachlese der Ereignisse vom 23. April 1930. Ich glaube, dass die wenigsten deutschen Leser sich gut in der britischen Kolonialgeschichte auskennen. Ich musste zwischendurch immer wieder Google und Wikipedia bemühen. Mit einem Hintergrundwissen ist es leichter, das Zeitgeschehen zu verfolgen.

An den Schreibstil und die ungewöhnlichen Namen musste ich mich erst einmal gewöhnen. Die Ereignisse werden abwechselnd aus der Sicht der jungen Engländerin Vivian Rose Spencer und den Paschtunen Qayyum und Najeeb erzählt.

Die Ereignisse des 23. April werden aus der Sicht von Qayyum, Vivian und dann noch einmal aus der Sicht von Najeeb geschildert. So entsteht ein umfassenderes Bild der Geschehnisse dieses Tages. In diesem Abschnitt erzählen Zarina und Diwa ihre Geschichte, die mich sehr gefesselt hat. Schade, dass die beiden nicht schon früher zu Wort gekommen sind. Es wäre interessant die Geschehnisse und den politischen Wandel aus der Sicht muslimischer Frauen zu erfahren.

Gut gefallen hat mir das Stilmittel des Briefwechsels von 1928 bis 1930 zwischen Vivian und Najeeb, in dem es um archäologische Ausgrabungen geht und eine erneute Reise von Vivian nach Peschawar vorbereitet wird.

Die Idee die Geschichte mit Skylax im Jahr 550 v. Chr. zu beginnen und sie wieder mit Skylax im 485 v. Chr. enden lässt, gefällt mir gut.

Die Charaktere werden ausführlich dargestellt, sie entwickeln sich weiter und werden reifer, wobei Vivian irgendwie zu kurz kommt. Die Kapitel mit Qayyum und Najeeb, Zarina und Diwa sind viel lebendiger geschrieben als die mit Vivian.

Vivian ist in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen und durfte Archäologie studieren. Für Frauen der damaligen Zeit war ein Studium nicht selbstverständlich. Von einer Frau wurde erwartet, dass sie heiratet und ihre Pflichten erfüllt. Vivian setzt sich über alle Konventionen hinweg und lebt von Juli 1915 bis März 1916 in Peschawar, wo sie sich in einer ihr fremden Welt allein durchboxen muss. Vivian bewegt sich zwischen zwei Welten. Eine alleinstehende Frau, die ihrem Beruf nachgeht, sich für die Lebensweise der Einheimischen interessiert und ihre Sprache lernt, wird bei den konservativen Briten misstrauisch beobachtet. Die gesellschaftlichen Veränderungen durch den Ersten Weltkrieg haben sich in den britischen Kolonien nur sehr langsam durchgesetzt.

Schilderungen des Alltags beider Seiten zeigen die unterschiedlichen Denk- und Lebensweisen. Die Gegensätze der beiden Kulturen werden hier sehr deutlich.

Qayyum ist eine sehr vielschichtige Persönlichkeit. Er kämpft im Ersten Weltkrieg in der britischen Armee in Frankreich. Ausführlich beschrieben wird Qayyums Zwiespalt zwischen seiner Kultur und seinem Leben als Offizier. Qayyum versucht für sich, einen Platz im Leben zu finden.

Einen ganz anderen Lebensweg schlägt Najeeb ein. Von klein auf ist er sehr wissbegierig und durch Vivian weiß er, was er will. Er möchte Archäologe und später „Indian Assistant“ im Museum von Peschawar werden. Er verehrt Viv und beide bleiben über die Archäologie miteinander verbunden.

Das Buch hat für mich ein unbefriedigendes Ende. Ich hätte noch gerne erfahren, wie die Protagonisten die schlimmen Erlebnisse verarbeitet haben und wie es ihnen ergangen ist.

„Die Straße der Geschichtenerzähler“ von Kamila Shamsie ist ein anspruchsvoller, bewegender Roman und keine leichte Lektüre für zwischendurch. Es ist ein außergewöhnliches Buch mit politischen Aspekten und einer überzeugenden und fesselnden Zeitgeschichte, die zum Nachdenken anregt.


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