Autor: Dr. Oliver Dierssen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Erschienen am 13.10.22 im Mosaik Verlag
Aktuell haben wir in der Praxis ein drängendes Problem in Familien: Interaktionsstörungen! Emotionale und seelische Problemstellungen bei Kindern und Jugendlichen, herausforderndes Verhalten sowie eine belastete Eltern-Kind-Beziehung beschäftigen in ihrer Konsequenz ganze Kita- und Schulteams, füllen Fallbesprechungen und führen zu so manch einer innerfamiliären Krise. Bedürfniskonflikte zu klären, wird als enorm schwierig wahrgenommen, wenn zum einen das Kind bindungsorientiert begleitet und zum anderen auch gut für sich selbst gesorgt werden muss.
Fangen wir am Anfang an: Bindungsorientierte Begleitung und Erziehung von Kindern ist sowohl im Familienverbund als auch in der institutionalisieren frühkindlichen Betreuung, also der Kita, mehrheitlich angekommen. Und gleichzeitig beobachten wir, dass Beziehungen nicht gelingen, dass Bindung nicht oder nur unzureichend entsteht oder fragil bleibt. Und was machen Eltern, wenn diese Beziehungsarbeit einfach nicht gelingen will? Wenn keine gemeinsame „Wellenlänge“ mit dem Kind oder Jugendlichen gefunden werden kann? Enttäuschung, Ohnmacht, Überforderung und Respektlosigkeit macht sich breit, Zurückweisung als negatives Denkkonzept gewinnt in der schwachen oder nicht gelingenden Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem die Überhand. Ohnmacht stellt sich ein. Im ungünstigsten Fall kann die Folge von nicht vorhandener oder nicht gelingender Beziehungsgestaltung auch eine ernste Krise sein und das Kind oder den Jugendlichen in nahezu nicht bewältigbare Situationen bringen. Wie können Eltern in diesen Situationen als „gute Eltern“ agieren? Was braucht es, um Situationen zu bewältigen und wo kann Hilfe geholt werden?
Nun ist der Erziehungsratgeber-Markt schier unendlich groß, aber fundierte fachliche Literatur über Elternschaft, Kinder und Jugendliche (!) in der Krise, Eltern-Kind-Beziehungen und Lösungsansätze gab es bisher nicht. Dierssen benennt die Herausforderungen des Elternseins, zeigt in 8 Kapiteln geläufige Störungen der Eltern-Kind-Beziehung auf und bietet Übungen und Lösungsansätze, Entfremdung zu überwinden. Er geht auf Übertragung und Gegenübertragung ein und verdeutlicht eindrucksvoll, wie elterliches Verhalten auf Kinder und Jugendliche wirkt. Dies gelingt insbesondere durch den fachlichen Schreibstil, der die Problemlagen klar umreist, allerdings nie problematisiert. Im Grunde liest sich dieser Ratgeber wie ein Fachbuch. Methodisch allerdings holt es Eltern und Erziehende ohne pädagogische oder psychologische Ausbildung mit zahlreichen praktischen Übungen ab und bietet zusätzlich eine Checkliste für Hilfsangebote.
Der große Mehrwert dieses umfangreichen Buches ist seine Alltagsnähe und Fachlichkeit. Eltern erhalten Handwerkszeug, ihre Situation und die Bindung zum eigenen Kind (wieder) gelingender zu gestalten. Dierssen erschöpft sich nicht wie ein anderer bekannter Kinder- und Jugendlichen Psychiater im Beschreiben von Problem, sondern aktiviert die Fähigkeit, wieder Vertrauen entstehen zu lassen, in dem er sein Wissen und seine Erfahrung zur Verfügung stellt, um Herausforderungen bewältigen zu können.
Anders als in vielen einschlägigen Erziehungsratgebern wird hier konsequent auf Fachterminologie geachtet, um den Eltern als Partner auf Augenhöhe, als kompetenter Person zu begegnen.
Einziges Manko: Die Umschlagsgestaltung ist nicht besonders gut gelungen und ohne Schutzumschlag liegt ein senfgelbes Buch vor einem.