Cover des Buches Was das Meer ihnen vorschlug (ISBN: 9783866482319)
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Rezension zu Was das Meer ihnen vorschlug von Tomás González

Shakespeare kolumbianisch

von alasca vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Dichtes Familiendrama vor Meereskulisse.

Rezension

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alascavor 8 Jahren
SHAKESPEARE KOLUMBIANISCH
Tomás Gonzalez´ neuer Roman spielt in einem Küstenort in Kolumbien, nicht weit von der Hauptstadt Medellin. Schauplatz des Dramas mit Anleihen an Shakespeares „King Lear“ ist – neben einem Boot auf dem Meer – eine Bungalow-Hotelanlage direkt am Strand.

Die Zwillingssöhne Mario und Javier hassen ihren Vater, der keine Gelegenheit auslässt, sie als Versager zu verleumden. Was die Söhne in seiner Nähe hält, ist die Mutter – enttäuschte Liebe und die offene Missachtung ihres Mannes haben deren geistige Gesundheit zerrüttet. Die Spannungen zwischen Vater und Söhnen kulminieren, als sie zum Fischen hinaus aufs Meer fahren, obwohl eine Sturmwarnung ausgegeben wurde.

„Temporal“, also „Sturm“ im Originaltitel, ist ein Meisterstück der Form und der sprachlichen Verdichtung. Die Kapitel sind mit Uhrzeiten überschrieben – insgesamt sind es 27 Stunden, von denen der Roman erzählt, von Samstagmorgen bis Sonntag früh. Die Kapitel werden abwechselnd aus der Perspektive der Söhne, der Mutter und des Vaters erzählt; die Perspektive der Mutter wird durch einen Chor von Geistern (Anleihe beim antiken Drama) ergänzt; die Außensicht der Gäste bildet einen weiteren kommentierenden Chor. Magischer Realismus, typisch für lateinamerikanische Literatur. Das langsam näher ziehende Gewitter, die Schilderung der bedrohlichen Naturgewalten spiegelt die Zuspitzung des Vater-Söhne-Konflikts. Die Mutter, deren Geisterchor ein Unglück auf dem Meer prophezeit, bangt: Werden die Söhne akzeptieren, „was das Meer ihnen vorschlägt“?

Gonzalez braucht knapp 200 Seiten, um ein Familiendrama von archaischer Wucht zu erzählen. Dass Väter ihre Söhne als Konkurrenz betrachten können und dass Hass eine Macht sein kann, die Menschen aneinanderkettet, ist die weise Prämisse seines Romans. Seine Figuren entwickelt er in wenigen geschliffenen Sätzen, etwa wenn er über den Vater sagt, „seine Art, das Gastgewerbe auszuüben, hatte etwas von Gewalt an sich“; oder über Javier, er habe akzeptiert, „dass das Leben darin bestand, ständig in Höllen hinabzusinken und wieder daraus emporzusteigen.“ Besonders berührt haben mich Schilderungen wie diese aus der Perspektive Marios: „Wasser tropfte von den Rudern, in tiefem Schweigen glitten wir zwischen den Mangroven dahin, inmitten des Vogelgeschreis war unser Leben zur Ruhe gekommen." Schön auch die ironische Anspielung auf Hemingway, dessen Roman der literaturbegeisterte Javier im Gedanken an den Vater umtitelt in „Der alte Mistkerl und das Meer“.

Zwei Urgewalten: die der Natur und die menschlicher Emotionen. Das Ende mag manchen Leser enttäuschen, aber dieses Buch ist kein Thriller und erst recht kein Kriminalroman. Einfache Lösungen bietet Gonzalez uns nicht. Ich fand es absolut stimmig, denn „Nichts war zuviel, nichts fehlte.“

Ein außergewöhnlich dichter Roman über ein uraltes Thema. Uneingeschränkte Leseempfehlung!
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