Cover des Buches Tauben im Gras (ISBN: 9783518188927)
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Rezension zu Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen

Der "Urgrund unseres Heute" - die Fünfziger ohne Pettycoat und Elvistolle

von Joachim_Tiele vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Ehrlicher und authentischer als vieles von Böll, Grass, Lenz. Keine leichte Lektüre, aber einiges liest sich (wieder) seltsam aktuell

Rezension

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Joachim_Tielevor 8 Jahren
Ein Buch aus dem Jahr 1951, das noch heute gelesen und rezensiert wird und nach wie vor polarisiert - wie toll! Dennoch möchte ich mich eher nicht (direkt) in die Debatte zwischen Befürwortern und Hassern einklinken. Insbesondere denjenigen, die in der Schule unter der Lektüre leiden mussten, ist nur schwer zu widersprechen (ich finde es immer wieder schrecklich, hier bei LB zu lesen, wie es Deutschlehrern gelungen ist, ihren Schülern gute Literatur für den Rest ihres Lebens zu verleiden). Also von mir keine Rezension, die kämpferisch für das Buch oder sein Wiederlesen wirbt.

Statt dessen zwei etwas ausführlichere Zitate:

Das Buch wurde kurz nach der Währungsreform geschrieben, als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging. Es war die Zeit, in der die neuen Reichen sich noch unsicher fühlten, in der die Schwarzmarktgewinner nach Anlagen suchten und die Sparer den Krieg bezahlten. Die neuen deutschen Geldscheine sahen wie gute Dollars aus, aber man traute doch mehr den Sachwerten, und viel Bedarf war nachzuholen, der Bauch war endlich zu füllen, der Kopf war von Hunger und Bombenknall noch etwas wirr, und alle Sinne suchten Lust, bevor vielleicht der dritte Weltkrieg kam. Diese Zeit, den Urgrund unseres Heute, habe ich geschildert. (Aus dem Vorwort zur 2. Auflage 1952)

Öl aus den Adern der Erde, Steinöl, Quallenblut, Fett der Saurier, Panzer der Echsen, das Grün der Farnwälder, die Riesenschachtelhalme, versunkene Natur, Zeit vor dem Menschen, vergrabenes Erbe, von Zwergen bewacht, ehrgeizig, zauberkundig und böse, die Sagen, die Märchen, der Teufelsschatz: er wurde ans Licht geholt, er wurde dienstbar gemacht. Was schrieben die Zeitungen? Krieg um Öl, Verschärfung im Konflikt, der Volkswille, das Öl den Eingeborenen, die Flotte ohne Öl, Anschlag auf die Pipeline, Truppen schützen Bohrtürme, Schah heiratet, Intrigen um den Pfauenthron, die Russen im Hintergrund, Flugzeugträger im Persischen Golf. Das Öl hielt die Flieger am Himmel, es hielt die Presse in Atem [...] (Der Beginn des zweiten Absatzes)

Die fünfziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts finden immer wieder mal ein Revival, in der Literatur, im Feuilleton oder in der Mode. Pettycoat und Elvistolle, Kleider mit bunten Punkten und vielleicht noch Soraya, die damalige Ehefrau des im Zitat genannten Schahs, werden bis heute erinnert (1), das unheilige Weiterwirken alter Nazis in der Adenauer-Republik (2), oder was das deutsche Wirtschaftswunder mit dem Koreakrieg (und der damit verbundene Gefahr eines erneuten Weltkriegs) zu tun hatte (3), eher nicht, das Weiterführen des damals begonnenen internationalen Krieges um das Öl ebensowenig. So weit entfernt ist unser Heute dem des Jahres 1952 nicht, und jede neue nostalgische Verklärung dieser Zeit könnte Gefahr laufen, sie uns auch in ihrem Schrecken noch näher zu bringen.

Wem es um ein etwas runderes und nicht nostalgisch verklärtes Bild der Fünfziger geht, der ist bei Tauben im Gras sicherlich richtig. Der Titel? Dem Roman ist ein Zitat von Gertrude Stein vorangestellt - Pigeons on the grass alas. Anschluss finden an die damalige internationale Literatur war sicherlich auch eines der Ziele des Verfassers. Deren Stil mag für manche Jüngere (aber auch möglicherweise außerhalb der Illustrierten- und Genrelektüre ungeübte Leser jeden Alters) eine Hürde darstellen. Diese zu überwinden könnte sich lohnen.

Joachim Tiele - 16.08.2016

_________________

(1) Noch ganz akutell in der Zeitschrift Bunte: http://www.bunte.de/royals/royals-weltweit/maerchenkaiserin-soraya-ihr-chauffeur-erbt-ihr-vermoegen-254871.html

(2) Zum Beispiel "Adenauer Globke" @Google

(3) Zum Beispiel "Wirtschaftswunder Koreakrieg" @Google


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