REZENSION VON DANNY
Die
Geschichte von Libery Bell und Ernesto wurde uns auf der Leipziger
Buchmesse im März von Arena vorgestellt und hat mich neugierig gemacht.
Das Buch wurde von einer der renommiertesten, deutschen Autorinnen unter
Pseudonym geschrieben, die mit diesem Roman ein neues Genre
ausprobieren möchte.
Es
ging mal nicht um eine dieser fantastisch angehauchten
Liebesgeschichten, wie man sie in den letzten Monaten zuhauf gelesen und
gesehen hat. Sondern sie spiegelt den neuen Trend von sogenannten
“Contemporary”-Texten (realen Geschichten) wieder. Ich habe mich also
auf eine reale Geschichte mit zarter Liebe eingestellt. Umso
überraschter war ich über die Wendungen des Buches.
Erster Satz: Eine frühsommerliche Hitze lag über der Stadt.
Idee:
Wenn man den Klappentext und auch die Zusammenfassung vom Einband
liest, erwartet man eine ‘zarte Liebesgeschichte’ zwischen einem Jungen
und einem Mädchen, das fernab von Zivilisation aufgewachsen ist. Alleine
diese Idee bietet genug Stoff und Spannung, um damit einen Jugendroman
zu füllen. Aber daraus einen Thriller zu stricken, der an Verwirrungen
und Verstrickungen nur so strotz, macht das Ganze noch mal eine Nummer
interessanter, vielschichtiger und tiefer.
Als
uns Arena den Text im März vorstellte, dachte ich in der ersten Sekunde
an den Film “Nell” bei dem ebenfalls ein Mädchen in den Wäldern
gefunden und in die Zivilisation gebracht wird. Ich könnte mir gut
vorstellen, dass das vielleicht ein kleines Bisschen als Ideengrundstein
der Autorin gedient hat.
Spoiler
Direkt zu Beginn der Geschichte, noch bevor Kapitel Eins
anfängt, liest man zwei Rückblenden von verschiedenen Situationen an
unterschiedlichen Orten. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte bringt
die Autorin diese Rückblenden, die jeweils nicht aus Sicht vom Erzähler,
sondern entweder aus der Sicht des Täters oder des Opfers erzählt
werden. Diese Rückblenden sind sehr “entrückt” erzählt, sodass man am
Anfang gar nicht recht versteht, was diese Rückblende zu bedeuten hat.
Erst am Ende der jeweiligen Szene wird einem (meist mit nur einem Satz)
klar, was da gerade passiert ist.
Plot: Ernesto
und seine Freunde fahren in den Wald, um ein Mädchen, was einer der
Jungs durch Zufall “entdeckt” und beim Nacktbaden gefilmt hat, zu
suchen. Sie finden sie, verschwinden aber wieder, als sie sehen, wie es
eine Art Bisamratte tötet und häutet.
Ernesto
kann das Mädchen aus dem Wald aber nicht vergessen und fährt ein
zweites Mal hin. Dort angekommen findet er nicht nur Liberty Bell,
sondern auch einen seiner Kumpels (Jaden) mit seinem Cousin, die sie in
die Ecke drängen und dabei filmen. Es kommt zu einem Unfall, bei dem
Liberty Bell den Cousin schwer verletzt und flüchtet. Nachdem Ernesto
die Nacht bei ihr im Wald verbracht hat, um es nicht alleine zu lassen,
werden sie “Dank” des verletzten Cousins gefunden. Liberty Bell wird in
das örtliche Krankenhaus gebracht und unterliegt fortan ständiger
Überwachung. Kaum ist das Mädchen in der Stadt, geschieht ein
blutrünstiger Mord an einem alten Mann. Kurz darauf stirbt Ernestos
Kumpel Jaden bei einem Unfall…
Und
plötzlich steht man mit beiden Beinen in einem waschechten Thriller,
bei dem man sich immer wieder fragt, welcher der braven Bürger des
Städtchens ist nun der Mörder beziehungsweise Täter.
Mit
der Erwartung einer zarten Liebesgeschichte bin ich in das Buch
gestartet, die man auch im Grunde bekommt, aber dazu noch eine
Hintergrundgeschichte, die verworrener nicht sein kann. Im Laufe des
Buches nimmt der Fokus auf die Liebesgeschichte zwischen Liberty Bell
und Ernesto immer mehr ab, um viel mehr auf den Grund, Warum sich
Liberty Bell überhaupt im Wald aufgehalten hat, zu schwenken.
Im
ersten Moment war ich enttäuscht, aber dann wollte ich wissen, warum
plötzlich Charaktere starben, die offensichtlich nicht in näherer
Verbindung mit der Hauptprotagonistin standen.
Und alles lässt sich auf die beiden Rückblenden zu Beginn des Buches zurückführen.
Spoiler
Rückblenden zu Beginn des Buches: Die hingebungsvollen,
verliebten Gedanken eines pädophilen Vergewaltigers (wie allerdings erst
am Ende der Rückblende klar wird) und die rauschartigen Gedanken einer
Frau, die neben einem Kind liegt, das stirbt (was ebenfalls erst am Ende
der Rückblende klar wird).
Schreibstil:
Erzählt wird aus der Sicht von Ernesto, mal etwas anderes (und
Erfrischendes), als immer nur aus der Sicht einer starken Heldin zu
lesen. D.h. Liberty Bell lernt man nur durch Ernestos Erzählungen kennen
und man befindet sich (fast ausschließlich) im Kopf des Helden. Ich
brauchte eine ganze Weile, bis ich mich in die Geschichte eingefunden
hatte. Vor allem die Dialoge sind sehr umgangssprachlich geschrieben,
sodass ich einige Sätze doppelt lesen musste. Die einzige Erklärung, die
ich mir selbst dafür geben kann, ist die, dass aus der Sicht des
männlichen Protagonisten erzählt wird, und Jungs immer anders ‘erzählen’
(cooler, selbstsicherer usw.) als Mädchen. Das ist mir damals auch
schon in ‘Unschuld’ von Usch Luhn aufgefallen, da war auch aus der Sicht
des männlichen Protagonisten erzählt. Ich finde diese Art der “Sprache”
immer sehr schwierig, denn es verlangsamt den Lesefluss und ermüdet.
Ich mag eine flüssige Schreibe, die sich gut runterlesen lässt, ohne ins
Stocken zu geraten. Aber vielleicht braucht man gerade diese, um die
Jugendlichen zuerreichen – um anzudocken.
Charaktere:
Die Autorin schmeißt Charakter um Charakter in die Geschichte, dass ich
von Anfang an den Überblick verloren habe. Selbst jetzt, beim
anschließenden Resümee, kann ich nicht mehr sagen, wer alles dabei war,
und welche Rolle der oder diejenige gespielt hat (oder ob er oder sie
überhaupt eine Rolle hatte). Ich gehe sogar soweit zu behaupten, ein
oder zwei Charaktere weniger, hätten der ganzen Geschichte keinen
Abbruch getan und würden den Leser nicht so überfordern. Leider führt
genau diese Charaktervielfalt dazu, dass sämtliche Nebencharaktere sehr
blass erscheinen und sich nicht (außer durch Namen) voneinander
unterscheiden. Was bei mir zum Schluss dazu geführt hat, dass es mir
“egal” war, wer da gerade gesprochen hat, weil ich sie sowieso nicht
auseinanderhalten konnte.
Spoiler
Zum Beispiel hat Ernesto 5 Freunde. Ronan, Salvadors, Jaden,
Darayavahush und Mose. Für mich gefühlte zwei Jungs zu viel. Dazu
nochmal fünf Mädchen (die aber erst im späteren Verlauf der Geschichte
dazukommen und nur eine (Sally) einen wirklichen Teil zur Geschichte
beiträgt.
Zu
der ganzen Charaktervielfalt kommen dann noch die verschiedenen Orte
hinzu. Es gibt zwei Restaurants/Bars, ein Krankenhaus, diverse
Jungenzimmer, Häuser und andere Schauplätze, bei denen man aber soweit
gut mitkam.
Ernesto,
der Hauptprotagonist, ist siebzehn und einziger Sohn des plastischen
(halb querschnittsgelähmten) Chirurgen des Ortes. Er hat die Schule fast
beendet und soll ab dem Herbst (wie nicht anders zu erwarten) Medizin
studieren. Auch jetzt im Nachhinein kann ich nicht wirklich sagen, wie
Ernesto “ist”. Sobald es aber um Liberty Bell geht, kämpft er für sie
und will sie beschützen. Er fühlt sich für sie verantwortlich, was ihn
sehr sympathisch macht.
Liberty
Bell ist das Mädchen aus dem Wald. Man lernt sie nur durch ihre
Reaktionen und das, was Ernesto über sie denkt, kennen. Das machte es
mir als Leserin sehr schwer, mich mit ihr zu identifizieren oder sie “zu
verstehen”. Sie ist mutig und entschlossen und lässt sich nicht
kleinkriegen. Etwas, was ich sehr an ihr mochte.
Spoiler
Ich fand Liberty Bells Eingewöhnung in die neue Umgebung zu schnell.
Sie wird vom Wald in die Zivilisation gebracht und bereits wenige Tage
später fährt sie Auto und nimmt alles als “selbstverständlich” hin. Sie
stellt zwar Fragen, und ist neugierig, aber stellenweise fand ich das zu
wenig. Auch fand ich es seltsam, dass sie Ernesto gegenüber nicht
scheuer gewesen ist. Schließlich hat ihre Mutter ihr beigebracht, das
Männer “böse” sind.
Auch
Ernestos Einstellung gegenüber seiner Familie finde ich seltsam. Es
wird war alles als kühl und unterkühlt bezeichnet, aber als Sohn
(mega)reicher Eltern sollte er entweder eine richtige
‘Scheissegal’-Einstellung haben, oder etwas mehr Interesse zeigen, zumal
er sich nicht als der widerspenstige, aufsässige reiche Chirurgensohn
darstellt, dem langweilig ist und der nicht weiß, was er mit seiner
Freizeit anstellen soll. Stattdessen wird nur berichtet, dass er selten
mit seinem Vater spricht (weil er viel arbeitet) und noch weniger mit
seiner Mutter. Das ist in meinen Augen ein wenig dünn.
Über
den Antagonisten will ich nichts schreiben, denn wenn ich das täte,
müsste ich nur spoilern und das würde doch ziemlich viel der Spannung
rausnehmen. Nur so viel: Bis zum Schluss ist nicht klar, wer der Täter
ist.
Hintergrund: Ich mag gut durchdachte, stimmige Geschichten und Hintergründe.
Spoiler
Ein pädophiler Kinderschänder in Oregon, der sich an einem
zehnjährigen Mädchen vergehen will. Eine Frau in Kalifornien, die sich
in einem Rausch befindet und nicht mitbekommt, dass neben ihr ein Kind
stirbt.
Zwei
Situationen, die unterschiedlicher nicht sein können und doch
unmittelbar miteinander verknüpft sind. 21 Jahre später wird in Oregon
ein 17-jähriges junges Mädchen im Wald gefunden und in die Zivilisation
gebracht. Was folgt, ist ein toter Vietnamveteran, der auf den ersten
Blick so gar nichts mit dem Ereignis zu tun hat. Erst langsam, Schritt
für Schritt wird klar, was damals ,1991, wirklich passiert ist.
Ganz ehrlich: Thriller sind nicht mein Genre.
Genauso
wie bei Filmen, mag ich “Hollywood”-Geschichten, die einfach “schön”
sind und mich mit einem Lächeln das Buch am Ende weglegen lassen. Bei
Thrillern habe ich nicht dieses Gefühl, eher das Gegenteil ist der Fall.
Bei Thrillern wird man mit “kranken Köpfen” konfrontiert, die es
durchaus auch in der Realität geben kann. Ich frage mich auch immer
wieder, wie man sich als Autor eine solche Geschichte einfallen lassen
kann, denn gerade bei Thrillern steht und fällt die Geschichte mit einem
“perfekt bösen” Antagonisten. Und weil ich einfach die heile, schöne
Welt mag, gibts bei mir auch selten so “perfekt böse” Charaktere.
In
dieser Geschichte haben wir einen “perfekt bösen” Antagonist, der mir
einen Schauer nach dem Nächsten über den Rücken laufen lässt. Das macht
einen guten Thriller aus – das macht ‘Liberty Bell – Das Mädchen aus dem
Wald’ aus.
Spoiler
Ich habe mich jedoch gefragt, warum die Autorin die Geschichte in
den USA spielen lässt. Bei den vielen Interviews, die wir geführt haben,
war heraus zuhören, dass das Setting zur Geschichte passen muss. Und
was spricht dagegen, ein kleines verschlafenes Nest irgendwo im
Schwarzwald oder in Bayern zu nehmen? Oder ist es deshalb USA geworden,
weil das soweit weg liegt und so die Realität von Deutschland fernhält? –
Frei nach dem Motto – bei uns in Deutschland gib es so was nicht.
Außerdem
sind für mich einige Fragen nicht gelöst worden. Wie ist Libby zu Annie
gekommen? Wo hat sich Ruby all die Jahre aufgehalten? Was genau hatte
Flavio mit allem zu tun? Es wird zwar klar, warum der Antagonist tut was
er tut, aber auch hier ist mir die ein oder andere Verstrickung zu viel
eingebaut.
Fazit: Ein
absolutes Überraschungsei. Es täuscht durch einen plätschernden Anfang,
um dann mit einem blutigen und spannenden Ende zu enden. Dazwischen
gibt es, viel Spannung, ganz viel Rätsel, eine Menge Blut und eine zarte
Liebe.
Wer
also nach einer rosa-roten Liebesgeschichte sucht, sollte einen großen
Bogen um ‘Liberty Bell’ machen, denn das ist nichts für das schwache,
liebesgeschichtenhungrige Mädchen (oder auch Jungen). ‘Libery Bell – Das
Mädchen aus den Wäldern’ ist ein Jugendthriller mit ganz vielen
kaputten Charakteren und einem (in meinen Augen) ziemlich pervers,
kranken Antagonisten.