„Natürlich kann man hier nicht leben“ erzählt in mehreren Zeitebenen von den politischen und persönlichen Kämpfen einer Familie aus der Türkei. Die Geschichte beginnt mit Nilay, einer jungen Frau in Deutschland, die sich inmitten der Gezi-Park-Proteste von 2013 nach einem Sinn in ihrem Handeln sehnt. Doch der Kern des Romans liegt in der Vergangenheit ihrer Eltern, Selim und Hülya, die als junge Erwachsene in der Türkei der 1980er Jahre Teil der linken Widerstandsbewegung waren. Während Selim und Hülya gegen die Militärdiktatur kämpfen, sehen sie sich mit Willkür, Verrat und persönlichen Verlusten konfrontiert. Schließlich müssen sie die Türkei verlassen und fliehen nach Deutschland – eine Entscheidung, die sowohl Hoffnung als auch bittere Enttäuschung mit sich bringt. Die Ankunft in Deutschland und der Versuch, ein neues Leben zu beginnen, werden eindringlich beschrieben, ebenso wie die fortwährende Verbundenheit zur Türkei. Der Roman beleuchtet dabei nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Kämpfe, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen und inneren Konflikte seiner Figuren. 🌍📖
Özge İnan schreibt mit einer direkten, fast schon drängenden Klarheit, die die Emotionen und politischen Spannungen der Erzählung wirklich sehr greifbar macht. Der Stil ist irgendwie schnörkellos, an manchen Stellen fast schon poetisch, ohne dabei aber überladen zu wirken. Besonders eindrucksvoll fand ich die Dialoge, die die inneren Konflikte und unterschiedlichen Perspektiven der Charaktere extrem gut rübergebracht haben - selbst beim Hörbuch, was ich oft schwieriger finde. Manche Passagen, insbesondere die politischen Debatten und Reflexionen, verlangen ein gewisses Vorwissen oder Einlesen über die neuere türkische Geschichte, was den Lese- bzw. Hörfluss ein wenig erschwert hat. Dennoch schafft es die Autorin, auch komplexe Themen zugänglich und emotional aufgeladen darzustellen - hat mich sehr berührt. ✍️💔
Der Wechsel zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gibt der Geschichte eine besondere Dynamik, war aber ab und an beim Hören etwas anstrengend zu unterscheiden bzw. zu verfolgen. Die Handlung in der Türkei ist sehr aufwühlend und zeigt eindrücklich die Gefahren, denen Selim und Hülya ausgesetzt sind, sowie die Spannungen innerhalb der linken Bewegung. Die Abschnitte, die in Deutschland spielen, bieten dann einen ziemlich guten Einblick in das Leben von Migrant:innen und die Herausforderungen, die mit der Entwurzelung einhergehen. Während der Fokus auf Selim und Hülya liegt, kommen Nilays Perspektive und die Gezi-Park-Proteste etwas zu kurz, was ich schade fand. Vielleicht auch einfach, weil ich nach Lesen des Klappentextes ein bisschen was anderes erwartet habe. Die Parallelität zwischen den Kämpfen der Eltern und der Tochter hätte in meinen Augen einfach stärker herausgearbeitet werden können. Trotzdem bleibt die Geschichte das ganze Buch über spannend und emotional intensiv. 🔄
Das Buch hat mich wirklich bewegt. Obwohl ich selbst keinen direkten Bezug zu den beschriebenen Ereignissen oder der Türkei habe, fühlte ich mich den Charakteren und ihren Kämpfen echt sehr nahe. Özge İnan schafft es, die Verzweiflung und den Mut ihrer Figuren so darzustellen, dass man mit ihnen hofft, leidet und zweifelt. Besonders berührt hat mich die Frage nach Heimat und Zugehörigkeit – ein Thema, das immer wieder in meinem Leben hochkommt. 🏡🤍
Das Buch hat mich auch wieder dazu motiviert, mich mehr über die politische Geschichte der Türkei zu informieren. Die Parallelen zwischen den historischen und aktuellen Ereignissen in der Türkei waren erschreckend und gleichzeitig lehrreich. 📚🔎
Fazit: „Natürlich kann man hier nicht leben“ ist ein wirklich eindrucksvolles Debüt, das Politik, Geschichte und persönliche Schicksale auf bewegende Weise verbindet. Trotz kleinerer Schwächen hat das Buch mir echt gut gefallen. ⭐⭐⭐⭐
Özge İnan
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Neue Bücher
Alle Bücher von Özge İnan
Natürlich kann man hier nicht leben
Natürlich kann man hier nicht leben
Neue Rezensionen zu Özge İnan
Ich habe nicht gewusst, wie die Türkei in den 80ern war und jedes Detail darüber habe ich wie eine Wahnsinnige eingesogen. Ich fand das total interessant, bis ich das Buch zu Ende gelesen und mich veräppelt gefühlt habe.
Die Autorin erzählt wunderbar die Geschichte von Selim und Hülya, geht ihr ganzes Leben epochenhaft durch und dabei tauchen so viele Figuren auf, die ich für wichtig gehalten habe, deren Leben ich verfolgte, deren Geschichte mich brennend interessierte, bis die Autorin sie einfach aus dem Buch geschubst hat.
Ich habe so viel über Ozan gelesen, den besten Freund von Selim, der radikal links war, der für die Partei gekämpft hat, den es nach Deutschland gezogen hat und dann macht Ozan eine schreckliche Wendung, aber darauf geht die Autorin gar nicht ein. Sie zieht Ozan einfach aus der Geschichte heraus und plötzlich habe ich gemerkt, wie irrelevant er am Schluss wurde. Was hat sich Ozan gedacht? Wieso hat er das gemacht? Was hat ihn zu so einem Entschluss bewogen? Die Autorin beantwortet das nicht, sondern es ist halt passiert und ich muss damit irgendwie zurechtkommen.
Der Bücherverkäufer wird wegen einer Verwechslung eingesperrt und was danach aus ihm wird, das verrät uns die Autorin auch nicht. Selim schließt mit einem Rechten eine kurze Freundschaft, der ihn im späteren Verlauf hilft und dann verschwindet auch er aus der Handlung.
Jede Figur, die eine Rolle einnimmt, die mehrere Seiten bekommt, über die ich so viel gelesen habe und die ich für wichtig hielt, verschwindet einfach so aus der Handlung und dann denke ich mir, wieso hat mich die Autorin damit so voll gelabert, wenn diese Figur doch am Schluss gar keine tragende Rolle bekommt?
Und dann Nilay, die Tochter von Hülya, die zurück in die Türkei will, um bei den Protesten auf dem Taksim-Platz mitzumachen. Sie taucht am Anfang auf und ich war gespannt, wie das weitergeht, ob Nilay wirklich allein in die Türkei fliegen wird. Wenn man die Inhaltsangabe liest, wird man davon überzeugt, dass Nilay diesen Schritt wagt:
"Dreißig Jahre später zieht es ihre Tochter in das Land, das sie hinter sich ließen, in der Hoffnung, anderswo frei zu sein."
Das war für mich der ausschlagende Punkt, weshalb ich das Buch überhaupt gekauft habe, weil ich neugierig war, wie das Nilay überstehen wird, ob sie wirklich frei protestieren könnte, ob sie enttäuscht wird oder ob mich die Autorin damit überrascht. Als Nilay endlich im Flughafen ist, endet das Buch plötzlich. Es ist aus. Ich habe mich noch nie so vera*scht gefühlt.
Alles baut auf diesen Moment auf und dann endet einfach so die Geschichte. Es ist vorbei, es ist aus und ich stehe da wie ein Depp, weil ich mich von einem falschen Versprechen verleitet habe. Weil die Autorin einfach so das Buch im entscheidendsten Moment endet, damit ich es mir zusammenreimen soll! Aber ich kann das nicht. Egal, wie ich es wende und drehe, wie sehr ich mich auch bemühe, ich kenne Nilay nicht und ich weiß nicht, was sie machen wird. Auf Nilay konzentriert sich die Autorin kaum, sondern sie ist halt da und ich solle mich damit anfreunden.
Es gibt nicht viele Bücher, die ich nach dem Lesen so sehr bereut habe, wie dieses Buch hier. Die Autorin lockt mit einem falschen Versprechen und hat mich die ganze Zeit im Glauben gelassen, dass die Geschichte mit Selim und Hülya, den Eltern von Nilay eine Art Vorarbeit war, die sich in der Handlung mit Nilay entfalten sollte. Das tut sie nicht und Nilay ist einer dieser Figuren, die am Schluss gar keine Rolle spielen.
Ja, es war spannend, es war interessant, aber das Ende macht alles zunichte und zertritt es untern den wertlosen Füßen von Nilay, die nicht die Rolle bekommt, die die Autorin versprochen hat. Nie wieder werde ich so leichtfertig ein Buch von Özge Inan lesen.
Özge Inan beschreibt in ihrem Debütroman am Beispiel zweier Familien Willkür und Verfolgung seitens der Staatsmacht in der Türkei. Selim und Hülya haben Unterschiedliches erlebt. Selim ist marxistisch-leninistisch orientiert und vertreibt verbotene Literatur, Hülya lebt in einer traditionellen Familie, muss sich mit der traditionellen Frauenrolle auseinandersetzen und erlebt, wie schwierig und gefährlich es wird, als ihre Schwester sich in einen Kurden verliebt.
Als die Kutlosoys (Selim und Hülya) ihr erstes Kind erwarten, emigrieren sie nach Berlin. Der Roman spielt in Rückblenden weitgehend in den 1980er Jahren in Izmir.
Der Kommentar.
Die historischen Hintergründe und näheren Umstände, die zu dem Militärputsch 1980 in der Türkei führten, in deren Folge Ahmet Kenan Evren einige Jahre lang Präsident war, werden nicht näher beleuchtet oder gar kontrovers diskutiert. Dabei ist das die Zeit in die uns die Autorin in Rückblenden hineinversetzt, damals als das Ehepaar Kutlosoy (Selim und Hülya) jung gewesen ist und in Izmir lebte. Polizei und Militär griffen hart durch, sie duldeten keine widerständigen Aktivitäten. Die Kurden waren damals schon Feindbild Number One.
Die Aufgabe des Militärs, die durch Kemal Atatürk ins Leben gerufene laizistische Verfassung des türkischen Staates zu bewahren und zu verhindern, dass nachfolgende Regierungen die Trennung von Staat und Religion wieder aufheben, wird in diesem dialoglastigen Roman nicht diskutiert. Und auch nicht, dass das Militär diese Aufgabe, Hüter der laizistischen Verfassung zu sein, in der Jetztzeit nicht mehr erfüllen kann, da durch Recep Tayyip Erdoğans systematische Infiltrierung des Militärs durch seine Gefolgsleute und Anhänger einerseits, der konsequenten Entfernung von kemalistischen Entscheidungsträgern andererseits der Tiger zahnlos wurde. Recep Tayyip Erdoğan ist derjenige Präsident, der bekanntlich sinngemäß sagte: “Die Demokratie ist ein Zug, auf dem wir mitfahren, bis wir das Ziel (Herrschaft = Einheit von Islam und Staatswesens) erreicht haben, danach brauchen wir den Zug nicht mehr.”
Auch die Geschehnisse 2012/13 auf dem TaksimPlatz werden nur kurz angerissen, obwohl diese der Ausgangspunkt des Romans sind und man muss sie entweder parat haben oder bei Wikipedia nachlesen: „Ende des Jahres 2012 war der Taksim-Platz wegen Bauarbeiten gesperrt worden. Im April 2013 kam es zu massiven Protesten gegen den Abriss des als Weltkulturerbe qualifizierten Emek-Kinos und gegen eine Politik der Stadterneuerung, die bevorzugt Baudenkmale des Kemalismus und der Verwestlichung aufs Korn zu nehmen scheint. Ihre Fortsetzung fanden diese Ereignisse in der Kontroverse um den Gezi-Park, dessen Bäume die Stadtverwaltung Istanbul zu fällen plant(e), um dort ein Einkaufszentrum zu errichten.“ (Wiki).
Der Roman konzentriert sich auf das individuelle Erleben seiner Protagonisten, das ist an und für sich nicht verkehrt, doch weil er es versäumt, die Widerfahrnisse der Familie Kutlosoy energisch an bestimmte historische Geschehen anzubinden, diese klar zu benennen und sie unter die Lupe zu nehmen, bleibt der Roman an der Oberfläche.
Das ist wirklich schade, denn man erkennt den Versuch einer Auseinandersetzung mit der Türkei: aber er schürft nicht tief. Themen werden angerissen, aber es gibt keine Kontroverse, Themen werden nicht mit Hintergrund unterfüttert, nicht einmal abgeschlossen. So wird am Ende nicht einmal klar, wem die Eltern Kutlosoy ihre Geschichte eigentlich erzählen, klären sie ihre Kinder über ihre Vergangenheit auf und was könnte dies für Emre (Sohn) und Nihay (Tochter) hier in der Gegenwart nun bedeuten – oder erzählt das Ehepaar Kutlosoy von seinen politischen Ansichten, von seinem Engagement in der Jugend und dem Enthusiasmus, der sie damals bewog, die Welt zum Guten verändern zu wollen und von ihrer umfassenden Enttäuschung darüber, dass es unmöglich war - nur uns, den Lesern? Das alles bleibt offen. Am klarsten wird der Roman noch, wenn er von den Studentenunruhen berichtet, und sich selbst dort, wo Frauen für Frauenrechte demonstrieren, patriarchalische Strukturen durchsetzen.
Der Roman arbeitet mit Dialogen, ist absolut dialoglastig, es gibt kaum Beschreibungen. Diese Dialoge sind allerdings recht lebendig, nicht gerade tiefschürfender Art, aber sie sind auch durchaus mehr als dick aufgetragene Informationsträger, deren Absicht man erkennt und dadurch genervt ist. Die Dialoge sind das Gute an dem Roman.
Fazit: Dialoge allein reichen nicht aus. Die erzählerischen Mittel der Autorin sind momentan noch limitiert, die Wortwahl enthält Phrasen; stärker zu Buche schlägt jedoch das Fehlen von sachkundiger Einbettung ins Zeitgeschehen, Erläuterungen und historische Zusammenhänge.
Kategorie: Eine Art historischer Roman
Verlag: Piper, 2023
Gespräche aus der Community
Community-Statistik
in 21 Bibliotheken
auf 12 Merkzettel
von 1 Leser*innen aktuell gelesen