Sehnsuchtsorte heute? In der Zeit der Pauschalreisenden, der Billigflieger und der Backpacker? Jeder Mensch hat seine eigenen, ganz persönlichen Sehnsuchtsorte, bedingt durch seine Biographie, Lektüre in der Kindheit, später vielleicht klassische Reiseberichte von Ibn Battuta , Marco Polo, Sven Hedin und Heinrich Barth, aber auch von Bruce Chatwin oder Paul Theroux oder die weiblicher Reisender wie Freya Stark, Elsa Maillart, Alexandra David-Neel oder Lieve Joris. Das Gelesene, das Gese-hene in Bildbänden und Dokumentarfilmen inspiriert und animiert. Mein erster Sehnsuchtsort war Nowgorod, in meiner russophilen Phase, weder durch Lektüre noch durch Fotografisches erweckt, sondern durch einen kitschigen Schlager von Zarah Leander: Die Rose von Nowgorod. Und es war ein schneeglänzender Väterchen Frost-Traum! Aber nicht immer sind Sehnsuchtsorte erfüllend, leider auch oft enttäuschend. Besonders im schnellen Wandel der Zeiten.
Zu reisen wie Achill Moser ist dem Normalmenschen leider nicht gegeben. Zu viele Fesseln: Arbeit, Zeit, Geld. Und Pauschalreisende und Backpacker sind keine Reisen-de, sie leben in ihren Ghettos oder strömen zu den Lonely Planet-Orten dieser Welt, die danach keine kleinen paradiesischen Oasen mehr sind, sondern inflationäre Hotspots der Social Media-Invasionen.
Der Autor lässt uns an seinen Kindheit teilnehmen, dem Ausbruch aus der kleinbür-gerlichen Welt: den Demütigungen, Strafpredigten und Ohrfeigen. Raus, fort, weg von der Tretmühle, auf der Suche nach „Mehr“, nach anderen Lebensformen und nach anderen Kulturen, nach Sinneseindrücken, die das Nachkriegsdeutschland nicht zu bieten hatte. Und auch nach Lebenssinn.
Sein erstes Sehnsuchtsziel war Marrakesch. Al hamra, die rote Stadt. Sehnsuchtsort auch für europäische Berühmtheiten wie Juan Goytisolo, Yves St. Laurent, Hans-Werner Geerdts, André Heller. „Ein Dorado für Orientromantiker, Basarbummler, Garküchengenießer, Gewürzsammler, Geisterseher, Duftfetischisten, Handwerksbe-wunderer, Menschengucker, Palmenverehrer, Palastbestauner, Labyrinthwanderer und Farbenliebhaber: grün die exotischen Pflanzen, Palmenblätter, Oliven, Aniskörner und Curry. Türkis die Bodenfliesen, Mosaikfenster, Vasen, Schals und Perlenketten. Rot die Häuserwände und die Stadtmauer, die Abenddämmerung, Chiliringe, Paprika und das Harissa-Gewürz. Schwarz die Schatten in den engen Gassen, die bodenlangen Gewänder der Frauen und ihre Schleier. Und weiß die schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas, die in der Ferne leuchteten.“
Der Platz Djema el Fna: „Fliegende Händler, Schreiber, Quacksalber, Schlangenbe-schwörer, Garküchen, Magier, Gaukler, Feuerschlucker, Affenbändiger, Kartenlege-rinnen, Hennamaler, Wunderheiler, Trommler, Sänger, Flöten und Tamburin-spieler“. Die Garküchen: gegrilltes Lammfleisch, gekochtes Huhn, gebratene Kebabs, brut-zelndes Gemüse, geschmorte Backpflaumen, gegarte Kalbsköpfe, Weißkrautbällchen mit Hackfleisch, süßsaure Pasteten, Couscous in allen Varianten, Kreuzkümmel, Kardamon, Safran, Minze, Koriander, Pfeffer, Petersilie, Zimt oder Ingwer.“
Diese Art der Beschreibung zieht sich durch das ganze Buch und gibt der Lektüre ein ganz eigenes Flair. Bringt Farbe und Gerüche in den Text, lassen im jeweiligen Kon-text ein intensives Miterleben, Sehen, Riechen, Hören zu.
Der Weg ist das Ziel, das beschreibt Mosers Weg auf der Seidenstraße von Samar-kand nach China. Man fühlt sich in den Kosmos dieser weltberühmten Handelsroute ein, die ihren Namen durch die chinesische Seide erhielt. Schöner Ergänzungsroman zum Thema: “Seide“ von Alessandro Barricco. Samarkand mit seiner türkis leuch-tenden Pracht des Registan, verbunden mit Namen wie Tamerlan und Marco Polo.
Die Taiga, Steppen, Seen, Flüsse, Vulkane, Gletscher, Gebirge und Wüste der Mongo-lei mit der Wüste Gobi waren für Moser Sehnsuchtsorte schlechthin. Die Steppe, wo der Himmel die Erde berührt, das Draussenleben und das Jurtenleben.
Die Inselträume, die Weltenferne und Ankerplatz zugleich symbolisieren. Robinson Crusoe oder doch lieber am Strand mit einem kalt-bunten Cocktail und sonnen-braunen Grazien? Achill Moser führt uns nach Ithaka, einer spröden Insel, dem Ur-Symbol der Sehnsucht nach Heimkehr und Heimat: die homerische Odysseus-Legen-de. Er fährt mit einer Dhau nach Sansibar: Zentrum des afrikanischen Sklaven-, El-fenbein- und Gewürzhandels. Schade, dass er als gebürtiger Hamburger nicht das Schicksal der Emily Ruete, geb. Prinzessin Salme von Oman und Sansibar, erwähnt, die 1866 einem Hamburger Kaufmann in den kalten grauen Norden folgte. Sie liegt übrigens auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf begraben.
Wir besuchen Oman, das alte Arabia felix, mit der berühmter Weihrauchstraße. „Tränen der Götter“ nennen die Omanis die Harztropfen des Boswellia-Baumes, die schon vor 3000 Jahren mit Karawanen über die Kontinente zogen.
„Dolchschmiede, Parfümeure, Schuhmacher und Schleierfärber, Kalligraphen, Buchbinder, Bäcker und Käppchen-Schneider. Krummdolche, Rosenwasser, getrocknete Skorpione oder Schlangen.“
Hier wanderte Achill Moser eine Woche allein durch die Rub al Khali, das Leere Viertel, die größte Sandwüste der Welt, trifft auf Tariq, einen Beduinen: zwei Men-schen die unterschiedlicher nicht sein können, verbringen einen Tag zusammen, essen, trinken Tee, erzählen von ihrem Leben, sind sich nah und ziehen wieder ihres Weges.
Timbuktu, die sagenumwobene, geheimnisvolle Stadt im Herzen Afrikas, die heute wie ein Ptokemkinsches Dorf wirkt: nichts erinnert mehr an die goldene Karawa-nenstadt, dem Wissen- und Handelszentrum der islamischen Welt. Aber die alten Bibliotheken wie das Ahmed Baba-Institut oder die private von Abel Kader Haidara mit über 40.000 Handschriften haben der Zeit und dem Verfall widerstanden. Sie konnten fast alle vor den Rebellen der Ansar Dine gerettet werden. Timbuktu ist im-mer noch ein Mythos, eine Legende, ein Phantom, dem z.B. der Hamburger Heinrich Barth erlegen war, er lebte von 1853-1855 in der Stadt und bis heute lebt er als Abd el Kerim im kollektiven Gedächtnis der Stadt fort ebenso wie der König Mansa Musa ,der im Jahre 1342 mit 6000 Dienern nach Mekka zog, mit so viel Gold, dass die Goldpreise in Kairo und anderswo für viele Jahre ins Bodenlose sanken.
Sehnsucht, Fernweh – was zieht uns hinaus in die Fremde? Erlebnishunger, Unzu-friedenheit mit dem Eigenen, ein Gefühl des Mangels, ein fremdbestimmtes Leben, die berühmte Tretmühle? Also ist es auch eine Flucht? Was stillt die Sehn-Sucht, den Suchtfaktor? Erweiterte Denk- und Blickhorizonte, das Eintauchen in andere Kul-turen, in andere Sprachen, der Austausch mit anderen Menschen. Ein Anhalten in dieser schnelllebigen Zeit mit ihrer Mediokrität, ihrer globalen Nivellierung.
Achill Moser zieht nach vier Jahrzehnten „on the road“ das Fazit, dass es trotz aller Sehnsucht nach dem Anderswo einen Ort für ihn gibt, der Heimat und Zuhause ist. Wo er aufgewachsen ist, wo er zur Schule und zur Universität ging, wo seine Familie und Freunde sind, sein Stammcafé, sein Viertel, wo er jeden Pflasterstein kennt. Dieser Ort ist das Angekommensein. Er hat also seinen eigentlichen Sehnsuchtsort gefunden, wird uns aber hoffentlich noch weiterhin an seinen Reisen teilhaben-lassen. Denn seine Texte sind etwas Besonderes, einfühlsam, auch poetisch. Lebendig. Eine mit-reis(s)ende und zugleich eine stille Sprache. Ein Zeugnis von Bescheidenheit.
Gut eingefügt in die eigentlichen Reiseberichte sind „philosophische“ Zwischen-kapitel und Gedankensplitter und Zitate einzelner Berühmtheiten.