Cover des Buches Der Große Krieg (ISBN: 9783608946956)
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Rezension zu Der Große Krieg von Adam Hochschild

... um alle Kriege zu beenden

von Wortklauber vor 9 Jahren

Rezension

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Wortklaubervor 9 Jahren

Vorweg: Mit dem Titel „Der große Krieg“, Untertitel „Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg“ (Originaltitel: „To end all wars. A story of loyalty and rebellion, 1914 – 1918“) hat sich der deutsche Verlag eher bedeckt gehalten; vielleicht fürchtete man, dass ein konkreterer Titel den möglichen Leserkreis (hierzulande) eingeschränkt hätte? Tatsächlich erzählt der Amerikaner Adam Hochschild vollständig aus britischer Perspektive. Hochschild, der nicht etwa (Militär-) Historiker ist, sondern Journalist (was man dem Buch anmerkt, und das ist durchaus nicht als Manko gemeint!), fächert – natürlich unweigerlich vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens – ein Panorama der englischen Gesellschaft auf, der großen Schar der Kriegsbefürworter und der deutlich kleineren der Gegner.

Wie bei einem Bühnenstück beginnt Hochschild mit einer Vorstellung der handelnden Figuren. Hinter den Kapiteln „Bruder und Schwester“, „Ein Mann ohne Illusionen“, „Die Pfarrerstochter“, „Heilige Krieger“ und „Boy Miner“ verbergen sich (unter anderem) die Frauenrechtlerin Charlotte Despard und Feldmarschall John French, ein Geschwisterpaar, das sich trotz seiner gegensätzlichen Einstellungen persönlich herzlich zugetan war, der Politiker und zeitweilige Kriegsminister Alfred Lord Milner, die Menschenrechtsaktivistin Emily Hobhouse, die Frauenrechtlerinnen Pankhurst und der Schriftsteller Rudyard Kipling, schließlich Keir Hardy, Gründer der Labour Party.

Literaturnobelpreisträger Kipling – sein bekanntester Roman wohl „Das Dschungelbuch“ – wird als klarer Befürworter des Krieges und darüber hinaus als Mann mit „vielen Abneigungen“ porträtiert, zum Beispiel gegen (Zitat) „Demokratie, Steuern, Gewerkschaften, irische und indische Nationalisten, Sozialisten und (…) Frauen“. (Nebenbei: Das Gedicht, das er über seinen 1915 gefallenen Sohn schrieb („My Boy Jack“), wurde zur Grundlage für ein Theaterstück und vor wenigen Jahren auch verfilmt.) Rudyard befand sich mit seiner (zumindest anfänglichen) Kriegseuphorie (zum Gegner hat er sich nie entwickelt) in „guter Gesellschaft“. Auch Arthur Conan Doyle (der 1918 ebenfalls einen Sohn im Ersten Weltkrieg verlor) leistete so zum Beispiel seinen schriftstellerischen Beitrag pro Krieg, von der Regierung zum „Dienst am Vaterland“ genauso aufgefordert wie Thomas Hardy, James Barrie oder H. G. Wells. Als Chefpropagandist wird John Buchan vorgesellt, sein bekanntestes Werk wahrscheinlich „Die neununddreißig“ Stufen (unter anderem von Alfred Hitchcock verfilmt).

Das Buch schildert, wie viereinhalb Jahre Propaganda funktionierten, wie sich angesehene Zeitungen (im bewussten Fall die Times) weigerten, mahnende Stimmen (von Lord Lansdowne, 1917) zu veröffentlichten, jeder gefallene Soldat selbstverständlich den Heldentod gestorben war, ehrenvoll und kurz, auch wenn es in Wahrheit oft ein grauenvolles Dahinsiechen war, es berichtet über Manipulation, um die eigene Reputation zu stärken, über zynische Rechenspiele. So mag ein Feldmarschall (Sir Douglas Haig) die Zahl der eigenen Verluste für zu niedrig befunden haben, weil sie im Umkehrschluss Aufschluss darüber gab, „wie wenige“ (tausend!) im gegnerischen Schützengraben ihr Leben gelassen hatten. Verluste als Maß des Erfolgs – bei gleichzeitigem tunlichem Meiden der Verbandsplätze, um persönlicher Übelkeit vorzubeugen. Es zeigt auch den Wahnwitz auf, der sich unter Umständen hinter Entscheidungen von Militärs verbarg: dass man die glorifizierte Kavallerie schlecht gegen Maschinengewehre einsetzen konnte (obwohl man deren verheerende Wirkung bereits im zweiten Burenkrieg erlebt hatte), dass Gas nicht gegen Stacheldraht (dem Haupthindernis bis zur Erfindung des Panzers) wirkte, dass einer auf dem Schlachtfeld schlecht beraten war, an Rot und Blau und jeglichem blinkenden Uniformbeiwerk festzuhalten …

Man erfährt dezidiert, wie gefährlich es war, sich gegen den Krieg auszusprechen, gar aktiv zu handeln. Der Leser begegnet Personen wie Alice Wheeldon und ihren Töchtern, denen ein Schauprozess gemacht wurde, nachdem sie Fahnenflüchtigen Unterschlupf gewährt hatten, genauso wie dem Philosophen und Mathematiker Bertrand Russell, einem wortgewaltigen Kriegsgegner, der für die Äußerung seiner Meinung ebenfalls zu einer Haftstrafe verurteilt wurde (die er dazu nutzte, mehrere Bücher zu verfassen). Man liest über wachsende Kriegsmüdigkeit von Soldaten und den Exempeln, die an manchen von ihnen statuiert wurden, um die „Kampfmoral“ der anderen zu stärken. Man liest, wie selbst klare Kriegsgegner freiwillig zurück an die Front gingen, weil sie sich ihren Kameraden verpflichtet fühlten – wie letztendlich der Traum der europäischen Sozialisten dem (Zitat) „triebhaften Drang des Menschen nach Solidarität mit den Angehörigen des eigenen Stammes“ nicht standhalten konnte.

Nach dem 7. und letzten Teil, nach der „Dramatis personae“ vom Anfang folgerichtig „Exeunt omnes“ genannt, hat Hochschild einen großen Bogen von den Burenkriegen bis nach Ende des Ersten Weltkrieges gespannt. Das Buch, auch wenn es mit gut 470 Seiten plus ca. 50 Seiten Anhang zu den umfangreicheren und allein schon wegen des Themas nicht zu den „Leichtgewichten“ zählen dürfte, ist sehr anschaulich, gut verständlich und lebendig geschrieben. Ich habe es gerne gelesen und würde es jedem empfehlen, der sich für die Hintergründe des Ersten Weltkrieges (auch) aus diesem Blickwinkel interessiert.

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