Cover des Buches Das geraubte Leben des Waisen Jun Do (ISBN: 9783518464250)
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Rezension zu Das geraubte Leben des Waisen Jun Do von Adam Johnson

Erschreckend, weil so wahr

von mecedora vor 11 Jahren

Rezension

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mecedoravor 11 Jahren
Jun Do kennt vieles nicht, was für die meisten jungen Menschen unserer Welt normal, ja selbstverständlich ist. Er hat noch nie einen Film gesehen, findet das Halten von Haustieren allein um des Kuschelns und Besitzens willen höchst seltsam, kennt nur eine kleine Anzahl verschiedener Haarschnitte, die der Staat seinen Bürgern erlaubt, weiß, dass man nicht einfach frei äußern darf, was man möchte. Denn das Lager lauert - auf jeden, der gegen die strengen Regeln und obstrusen Vorschriften in seiner Heimat verstößt, der sich auch nur des kleinsten Vergehens schuldig macht. Oder aus irgendeinem Grund im Weg ist.

Jun Do wächst in Nordkorea auf - dem sonderbarsten und vielleicht auch grausamsten, sicherlich aber unfreisten und abgeschottetsten Land unserer Zeit. Er lebt im Waisenhaus und trägt, wie alle Kinder dort, den Namen eines großen Volkshelden. Denn Jun Do ist kein Individuum mit eigenem Namen, eigener Identität und eigener Geschichte - er ist ein Rädchen in der großen Maschinerie des Staates und der Herrschaft des Geliebten Führers Kim Jong Il. Individualität zählt nichts, Austauschbarkeit alles. Freiheit ist etwas, was es nicht gibt, in keiner Form.
Doch als Jun Do die Schauspielerin Sun Moon auf beinah wahnwitzigen Wegen kennenlernt, ändert sich alles.


An der absurden Geschichte dieses jungen Mannes lässt Adam Johnson für Leser in aller Welt einen Staat und eine Realität entstehen, wie sie schrecklicher - und realer - nicht sein könnte. Denn sie ist real. Macht man sich dies klar, ist das, was und wie erzählt wird, nur noch mutiger, ja gerissener, als es anfangs scheint. Man kann sich beim Lesen kaum sicher sein, was der Realität in diesem abgeschotteten Land tatsächlich entspricht und was Fiktion ist. Was vielleicht übertrieben, überspitzt dargestellt ist und was in dieser Grausamkeit tatsächlich genau so mitten in unserer Welt abläuft.
Regelmäßig sind mir Schauer von Gänsehaut über den Rücken gelaufen, als ich in Adam Johnsons kühnen Roman eingetaucht bin. Kunstvoll konstruiert, wahrhaft gekonnt erzählt, temporeich, beinah wahnwitzig einfallsreich, erschreckend plastisch und fast schon schamlos humorvoll wird von Grauen und Zuständen, von Ereignissen und so selbstverständlichen wie unverständlichen Dingen geschrieben.
Und dabei werden ganz basale Aspekte des Menschseins angesprochen: Freiheit. Identität. Wahrheit. Liebe. Aspekte, die in Nordkorea unter Strafe stehen, strebt man nach ihnen.

Kann man über eine Diktatur, die in diesem Jahr ganz aktuell wieder einmal auf äußerst bedrohliche Art und Weise ins Rampenlicht der internationalen Berichterstattung gerät, ein humorvolles Buch schreiben? Ein humorvolles Buch mit einem hohen inhaltlichen wie literarischen Anspruch, das sowohl Unterhaltung bietet als auch Aufklärung über einen Staat, über den man so wenig weiß?
Adam Johnson beweist mit "Das geraubte Leben des Waisen Jun Do", dass das sehr wohl geht. Und das auf ganz unvergessliche Weise.

Dieses Buch hat mich ebenso berührt wie unterhalten, mich ebenso aufgeklärt wie schockiert, mich mit schrägen Figuren beschenkt und meine Welt um eine Facette reicher gemacht - eine Facette, die auf ganz eigene Art fasziniert.

Für sein Buch wurde Adam Johnson in diesem Frühjahr der Pulitzerpreis verliehen - sehr zu recht. Ein grandioses Buch. Eines der besten, die ich dieses Jahr las. Und ein sehr wichtiges noch dazu. Absolut empfehlenswert.
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