Rezension zu "Apartment 16" von Adam Nevill
Mit "Apartment 16" vom Briten Adam Nevill rezensiere ich hier eines der kuriosesten Bücher, die ich je gelesen habe. Das ist mitnichten negativ gemeint, sondern eher positiv in diesem Fall. Denn normalerweise bin ich als Leser eher ein Fan von straighten, gradlinigen Thrillern oder Spannungsromanen, und allzu große Abweichungen von dieser Grundlage gefallen mir meist nicht sonderlich. Hier war es anders. Dieser Roman lässt sich kaum in ein einziges Genre einordnen. Viel mehr scheint das Buch bzw. der Autor ab spätestens der Hälfte selbst nicht mehr gewusst zu haben, was er für ein Buch er eigentlich schreiben möchte, salopp gesagt wohin die literarische Reise gehen soll. So entstand ein kurioser Genre-Mix bestehend aus 50% Thriller, 30% Horror und 20% Drama, welche sicherlich nicht jedermann's Sache ist und zuweilen auch für mich als Leser eine zähe Angelegenheit darstellte. Aber wiederum gab es auch äußerst gelungene, spannende und weirde Passagen, die mich fesseln konnten.
Die Location der Geschichte ist in London, genauer gesagt im Bereich des real existierenden Lowndes Square in Stadtteil Knightsbridge nahe des Hyde Park, in einer ziemlich reichen und vornehmen Gegend mit historischen, exklusiven Apartment-Komplexen. Zudem spielen wenige Teile in dessen unmittelbarer Umgebung und auch im Stadtteil Camden und Hackney. Dies fand und finde ich als Leser immer besonders toll - wenn eine Geschichte an realen Schauplätzen stattfindet. An besagtem Lowndes Square befindet sich das altehrwürdige, berühmte (wenn auch fiktive) Barrington House mit 9 Stockwerken und teuren Apartments. Dort spielt der Hauptstrang der Geschichte.
Die Story ist in zwei Erzählperspektiven unterteilt, einerseits in die der jungen Amerikanerin Apryl Beckford, welche sich um das Erbe in der Wohnung ihrer kurz zuvor verstorbenen Großtante kümmern muss, welche Jahrzehnte lang im Barrington House wohnte und scheinbar dort langsam verrückt würde, und andererseits um die des 31-jährigen Nachtportiers Seth, der in dem großen Apartmentgebäude die Nachtwache schiebt und von allerlei schlimmen Dingen geplagt ist. Apryl möchte neben dem materiellen Erbe einigen seltsamen Dingen in der Wohnung ihrer Großtante nachgehen, allen voran ihren Tagebüchern, die eine zunehmende wahnhafte Obsession mit einem Künstler namens Felix Hessen offenbaren, der dem Okkulten sehr nahe stand und früher ebenfalls lange im Barrington House lebte - und dort die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt hat. Zudem erscheinen ihr zunehmend paranormale Phänomene wie Schatten und Schemen, die scheinbar in Zusammenhang mit den Gemälden des verrückten Künstlers stehen. Seth hingegen sucht, geplagt von allerhand Selbstzweifeln und Psychosen, den Sinn seiner Existenz als eigentlicher Kunststudent, der nun dort im Haus sein tristes Dasein als Nachtwächter fristen muss, und stößt dabei auf jene Gemälde von Felix Hessen, die den labilen Kerl völlig in seinen Bann ziehen... und somit auch eine Reihe von bösen Kräften freisetzen, die schon seit Jahren in diesem Haus wüten, beschworen von Mr. Hessen, und die Apryl und den Hausbewohner noch sehr gefährlich werden...
Charaktere - Die Geschichte lebt eindeutig sehr von ihren zwei sehr unterschiedlichen Hauptprotagonisten Apryl und Seth. Während Apryl eine extrovertierte, neugierige und dynamische Amerikanerin ist, ist Seth dagegen ein introvertierter, unsicherer und kauziger Mann, der zudem von heftigsten Psychosen und psychischen Problemen geplagt ist, und obendrein noch unter Schlafmangel und schlechter Ernährung leidet. Ganz besonders Seth und seine Visionen können einem schön gruselig werden. Dieser Mann lebt wirklich am Abgrund seiner Selbst und seiner Existenz und könnte zu vielem fähig sein, man weiß ihn nie genau einzuschätzen. Man schwankt hin und her zwischen Mitleid, Neugier und Irritierung über seine Handlungen und Gedanken.
Der Aufbau verstärkt den andersartigen Eindruck der Geschichte nochmal mehr. Wie detailreich, ausführlich und krass Autor Adam Nevill z.B. die Horrorvisionen und Halluzinationen von Seth ausformuliert ist schon absolut bemerkenswert. Hier wird der Horror-Einfluss des Autors sehr deutlich und tritt in den Vordergrund. Leider tauchen gerade hier einige Längen auf, der Autor verliert sich oft fast in seinen langen und bizarren Beschreibungen der verrückten, alptraumhaften Visionen, die Seth heimsuchen und die ihn häufig lenken in seinem Handeln. Apryl hingegen kommt dabei fast ein wenig zu kurz. Ihr Anteil an der Geschichte hätte wesentlich mehr betragen können, zumal sie auf dem Einbandtext als Hauptfigur genannt wird, Seth hingegen überhaupt nicht. Jedoch ist der Verlauf der Geschichte gut nachzuvollziehen, ziemlich geradeaus und besitzt keine Rückblenden, jedoch auch nur wenig Twists. Die Spannung entsteht eher durch die vielen seltsamen Ereignisse im Haus und die Enthüllungen aus Apryls Nachforschungen und bleibt die Geschichte über konstant.
Am merkwürdigsten allerdings fand ich den Schreibstil des Autors. Selten habe ich Zeilen gelesen, die so intensiv und einfach nur crazy klangen und dabei so detailreich, ausführlich und aufwendig ausformuliert waren wie in diesem Buch. Ich fühlte mich häufig wie in gesellschafts-dystopische Psycho-Horrordramen-Filme wie z.B. "Requiem for A Dream" von Darren Aronofsky oder "Fear and Loathing Las Vegas" versetzt. Die Atmosphäre ist so ziemlich die gleiche, nur die Story ist anders. Hier plagen Seth diese kranken Visionen, die zuweilen an grauenvolle, schlechte Drogentrips erinnern, aber jedoch seinen schweren psychischen Störungen zugrunde liegen. Hut ab, wie authentisch man solch schlimme Spiele des Gehirns in packende Worte fassen kann! Adam Nevill kennt sein Fach. Lediglich das Finale und das Ende sind meiner Meinung nach viel zu kurz geraten und wirken zu schnell abgehandelt, zudem gibt es zum Ende hin auch ein paar plot holes. Außerdem ließ mich die Auflösung irgendwie unzufrieden zurück.
Sicher ist diese Heftigkeit und Intensität in Kombination mit der Länge dieses Buches nicht jedermann's Geschmack und auch nicht sonderlich massenkompatibel, aber sie ist durchaus unterhaltsam und oft spannend, wenn man sich darauf einlässt. Das Buch startet relativ straight und normal-gängig, wird aber im weiter Verlauf immer merkwürdiger, weirder und wirrer, ähnlich wie die Figur von Seth. Wer selbst mental vorbelastet ist, dem erscheint der Erzählstrang von Seth vermutlich dadurch um einiges greifbarer und verständlicher, als unvorbelasteten Menschen. Diese werden wohl eher Apryl sympathisch finden.
Es ist ein schwieriges, eigenartiges Buch. Man muss sich darauf einlassen, oder es eben bleiben lassen. Aber wenn man es tut, wird man es kaum bereuen, selbst wenn es ab und zu etwas zäh in der Ausführung wirkt. Daher gebe ich 3,5 von Sternen, aufgerundet auf 4.