Rezension zu "Freundlichkeit" von Adam Phillips
Freundlichkeit, eine unzeitgemäße Tugend? Stimmt das? Oh, ja! Das wird jeder bestätigen können, der wie ich als Zugezogene unter der typischen Berliner Rauhbeinigkeit leidet und sich jedesmal, wenn wieder ein Busfahrer kalt lächelnd losfährt, obwohl man noch vor der Tür steht, wünscht, dass Freundlichkeit etwas Selbstverständliches wäre.
Leider wird Freundlichkeit, wie auch die Autoren dieses hervorragenden und liebevoll gestalteten kleinen Büchleins konstatieren, heutzutage als Schwäche gedeutet und ist daher verpönt. Wie ist es dazu gekommen? Zur Klärung dieser Frage nehmen Philipps und Taylor uns mit auf eine Reise durch Kulturgeschichte und Psychoanalytik.
Schon seit der Antike ist der Begriff Freundlichkeit umstritten. Die – durch alle Epochen hinweg – zentrale Frage ist, ob der Mensch von Natur aus freundlich oder selbstsüchtig sei. Während Seneca der Meinung war, das keiner glücklich leben könne, wenn er nur auf seinen eigenen Vorteil aus sei, definierte Aristoteles Freundschaft als nach außen gewendete Selbstliebe. Gemeinsam war der klassisch-antiken Interpretation von Freundlichkeit, dass sie nichts mit Selbstaufopferung zu tun hatte.
Dies änderte sich mit dem Übergang zum Christentum, der eine entscheidende Wende in der Geschichte der Freundlichkeit mit sich brachte. Jetzt stellte sich die Frage, ob die sich selbst aufopfernde caritas eine menschliche Tugend oder ein Geschenk Gottes sei. Die Reformation brachte eine Institutionalisierung und Eingrenzung der caritas mit sich, die nunmehr zur Wohlfahrt mutierte.
Im 18. Jahrhundert mündete das Unbehagen über die Auswirkungen des Kapitalismus in den humanitären Aktivismus der Benevolisten gegen Sklaverei, Kindervernachlässigung und Tierquälerei. Hier wurde das Gutmenschentum begründet. Die caritas wurde auf philanthropische Aktivitäten zurückgestutzt. Die Unterstützung der „bedürftigen Armen“ verpflichtete im Gegenzug das einfache Volk zu Gehorsam und Unterwürfigkeit. Aufdringliche Freundlichkeit, verbunden mit Macht, droht in „moralin-süßsaure Bevormundung“ umzukippen. Diese Haltung ist leider bis heute aktuell und findet sich im Umgang mit Hartz IV-Empfängern und anderen Benachteiligten wieder.
Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Feminisierung der Freundlichkeit, die nunmehr als weibliche Schwäche abgetan wurde und als hochgehaltenes weibliches Merkmal wie Tugend und Keuschheit genauso gesellschaftlich irrelevant wurde wie diese.
In der Psychoanalyse wurde Freundlichkeit nur noch als sexuell verstanden. Mitleid und Altruismus fanden kaum Eingang in psychologische Theorien. Freundlichkeit wurde als erschreckende Abhängigkeit von der Mutter gedeutet, als Gefahr, dass die Distanzierung von den Eltern ausbleibt und in Regression mündet. Freundlichkeit erhielt den Status einer Tauschbeziehung in der Eltern-Kind-Beziehung. Eine „robuste“ Freundlichkeit könne nur entstehen, wenn Ambivalenzen und Hass, gerade auch in der Mutter-Kind-Beziehung, zugelassen werden.
Ein menschliches Wesen ohne freundschaftliche Bindung kann sich nicht wohlfühlen; alle Menschen sind voneinander abhängig.
Die moderne Gesellschaft will hiervon allerdings nichts wissen. Unabhängigkeit ist das höchste Gut, Selbstgenügsamkeit, Autonomie und Individualismus sind die neuen Tugenden. Der wettbewerbsorientierte Individualismus ist die uneingeschränkt herrschende Ideologie – „Der Kapitalismus ist nun einmal einfach kein System für einfühlsame Gemüter.“
Nun, am Ende der Reise durch die Denkmodelle der Jahrhunderte, kommen wir der Beantwortung der Eingangsfrage näher. Die freie Marktwirtschaft zersetzt die Gesellschaft, die ihre Grundlage ist: Familie, Karriere, Gemeinschaft. Befristete Verträge, erzwungene Mobilität und Überstunden führen zu Existenzangst, Isolierung und schon bei Grundschulkindern zu Stress und bereiten den Boden für die heute vorherrschende Unkultur der Härte und des Zynismus.
„Eine nur auf Wettbewerb beruhende Gesellschaft, die ihre Mitglieder in Gewinner und Verlierer aufteilt, landet zwangsläufig in misanthropischer Unfreundlichkeit.“
Womit die Unfreundlichkeit der Berliner Busfahrer etwas verständlicher wird.
Fazit: Mir hat das Buch sehr gut gefallen, weil die kulturgeschichtlichen und psychoanalytischen Erklärungen verständlich und spannend geschrieben sind.