Rezension zu "Taktverschiebung" von Adam Thorpe
Dissonanzen und Enthüllungen oder Die Interpunktion der Stille
Ein klassischer zeitgenössischer Komponist aus London wünscht sich in zwei parallelen Leben gleichzeitig zu leben, treibt aber im Endeffekt eher richtungslos umher: abgeschnitten von der Vergangenheit und ohne Sinn in der Zukunft zu sehen, bis er zu den Wurzeln seiner Dissonanzen zurückkehrt.
Estland und seine wunderschöne, direkt am Finnischen Meerbusen gelegenen Hauptstadt Tallinn sind nur selten Gegenstand der modernen Romanlandschaft. Derweil strahlt die mittelalterliche Altstadt, umgeben von einer mächtigen Befestigungsmauer und einer fast labyrinthartigen Verästelung von Straßen, Gässchen und Treppen einen unglaublichen Charme aus.
Der britische Autor Adam Thorpe entfaltet seinen siebenten und dritten auf Deutsch erschienenen Roman Taktverschiebung in diesem reizvollen Ambiente: in der "Morgendämmerung des 21. Jahrhunderts".
Enddreißiger Jack Middleton ist - oder war - einer von "Englands vielversprechendsten jungen Komponisten". Seine Frau ist die wohlhabende, aristokratische Milly du Cran. Jacks Zukunft scheint gesichert: prachtvolle Villa in Londons bester Gegend und all die mit Reichtum verbundenen äußeren Annehmlichkeiten. 1999 besucht er Tallinn, die Heimat seines Idols, des Komponisten Arvo Pärt, Eremit und Kultfigur der klassischen Musikszene. Jack ist beauftragt worden, ein Stück für ein Konzert zur prachtvollen Jahrtausendwende-Party, zur Eröffnung des Millennium-Doms in London zu schreiben. Hier in Tallin will er sich inspirieren lassen und aus seiner zunehmenden Midlife-Krise herauskommen. "Ich saß auf einer Bank gegenüber der Alexander-Nevsky-Kathedrale mit der goldenen Kuppel (...) Ich fragte mich, was wohl der Sinn des Lebens sei. (...) Man entwickelt sich. Man löst Probleme, indem man diesen Weg nimmt oder jenen (...) Meine Entscheidung war, das Ding hier kommen zu lassen."
Das Ding" kommt in Form einer schönen estnischen Frau, Kaja, einer Musikerin, Aushilfskellnerin und ehemalige sowjetische Meisterturnerin. Er beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit ihr. Kaja ahnt nicht, dass Jack verheiratet und seine Frau schwanger ist. Die Affäre endet, als Jack nach drei Wochen verlegen zurück nach England schleicht.
Sechs Jahre später, nach den Londoner Bombenanschlägen im Jahre 2005, steckt die Ehe von Jack und Milly in einer Krise. Ihr Kind wurde tot geboren, und das Paar bleibt fortan kinderlos. Jack, der es geschafft hat, seine estnische Affäre geheim zu halten, dümpelt künstlerisch nur noch dahin. Die erhofften Inspirationen blieben aus.
Plötzlich taucht Kaja in London auf, begleitet von einem kleinen Jungen, Jacks Sohn: das Ergebnis der dreiwöchigen "Inspirationssuche" vor sechs Jahren in Tallinn. Kaja möchte, dass ihr Sohn seinen Vater regelmäßig sieht, und Jack kann das Geheimnis vor seiner Frau nicht mehr länger verbergen. Als Milly die Wahrheit erfährt, verlässt sie Jack. Der Zusammenbruch seiner Ehe verstört Jack zutiefst: "Angst, dass dieses bequeme Leben - leistungsschwach mag sein, aber bequem - zertrümmert werden könnte".
Jacks Unentschlossenheit und nebulöse Positionierung veranlasst Kaja, nach Estland zurückzukehren, wo sie einen Zimmermann heiratet und versucht, die Vergangenheit zu vergessen. Erst jetzt trifft Jack Middleton seine erste veritable Entscheidung: Er folgt Kaja in ihre Heimat - mit tödlichen Konsequenzen.
Der Roman offenbart eine raffinierte Erzählstruktur: an das Ende fügt sich homogen der Anfang. Adam Thorpe, der seine Karriere Dozent für Englische Literatur und Theaterwissenschaften und als Lyriker begann, erzählt in Taktverschiebung eine zauberhafte Liebesgeschichte mit den Grundzügen einer leichten Komödie. Herausragend, die Beschreibung der Taxifahrt vom Flughafen in die Innenstadt von Tallin.
Jedoch ist das Komödiantische nur ein Teil der Mischung.
Großbritannien und dessen geld- und besitzgeprägte Hauptstadt London, außerhalb der idyllischen Verzauberung von Hampstead, dem Landsitz von Jacks Schwiegereltern, skizziert Thorpe als trostlosen Platz (besonders das vorstädtische Hayes, Jacks Heimatstadt), wo ständig die Gefahr besteht, überfallen und niedergeschlagen zu werden (obwohl Jack - ironischerweise - nur in Tallinn durch eine randalierende britische "Herrengesellschaft" in eine für ihn äußerst schmerzhafte Schlägerei verwickelt wird).
Taktverschiebung enthält überdies Elemente des Melodramas. Überall im Buch gibt es Referenzen zu Madam Bovary. Thorpe modernisiert Flaubert: Emma, Rodolphe und Charles sind hier Jack, Milly und Kaja. Der Roman kann - genau wie bei Flaubert - als Satire auf die selbstzufriedene bürgerliche Kultur des alten Europas gelesen werden, beleuchtet gleichzeitig aber auch den moralischen und materiellen Zerfall des kommunistischen Europas und die zweifelhaften kapitalistischen Folgen. Tallinn, mit Thorpes Augen betrachtet, ist ein baltisches Prag unter der Belagerung von Sextourismus und Billigflieger-Invasionen.
Der Roman hat seine Stärken ganz klar in Estland. Der Anfang und das Ende sind Thorpes Meisterstücke. Im Mittelteil ufert der Autor gelegentlich etwas zu weit aus und spickt seine Zeilen für einen Laien mit zum Teil schwer verständlichen Musikreferenzen von Cornelius Cardew bis György Ligeti.
Die Hauptprotagonisten sind durchgehend gut gezeichnet. Zu deren Unterstützung agieren eine Reihe englischer Exzentrikern: Jacks Nachbarn Edward Cochrane, sein homosexueller Freund Howard Davenport oder aber seine aristokratischen Schwiegereltern Marjorie und Richard du Crane. Diese Personen und deren grundverschiedene Ansichten verleihen dem Buch eine besondere Würze.
Fazit:
Taktverschiebung ist ein eindrucksvoller, ideenreicher, kluger und komplexer Roman: gut beobachtet, humorvoll und gleichzeitig nachdenklich stimmend: ein wunderbares Sitten- und Zeitengemälde des "neuen" und "alten" Europas, flüssig und ideenreich übersetzt von Matthias Müller.