Derzeit erscheinen viele neue Bücher über den Wiener Kongress, dessen Beginn sich in diesem Herbst zum zweihundertsten Mal jährt. Ein etwas älteres Buch, das auf Englisch schon 2007 erschienen ist, liegt jetzt auch auf Deutsch vor. Mit "1815" knüpft der polnisch-amerikanische Historiker Adam Zamoyski unmittelbar an sein Werk über Napoleons gescheiterten Russlandfeldzug von 1812 an. Die Fortsetzung beginnt mit der hastigen Rückkehr des Kaisers nach Paris und schlägt dann einen Bogen von den militärischen Auseinandersetzungen des Jahres 1813 über die Völkerschlacht bei Leipzig, den alliierten Einmarsch nach Frankreich und Napoleons Abdankung bis hin zu den mehrmonatigen Verhandlungen in Wien. Die Aufgabe des Wiener Kongresses bestand darin, Europa nach 25 Jahren Revolution und Krieg eine stabile Friedensordnung zu geben. Seine Endphase wurde überschattet von Napoleons Rückkehr und den Hundert Tagen. Mit Napoleons Sturz und dem Wiener Kongress hat Zamoyski abermals ein Thema gewählt, das sich hervorragend für eine episch breite Darstellung eignet, bietet es doch sowohl eine Fülle dramatischer Ereignisse als auch ein Ensemble von faszinierenden Persönlichkeiten. Zamoyski kann in diesem Buch erneut alle seine Stärken als Historiker und Erzähler zur Geltung bringen, vor allem seine bewundernswerte Quellenkenntnis und sein Vermögen, sich in die historischen Akteure hineinzuversetzen und ihr Denken und Handeln zu erklären.
Meisterhaft stellt Zamyoski die mal harmonischen, mal angespannten persönlichen Beziehungen zwischen den Herrschern und Staatsmännern dar, die sich gegen Napoleon verbündeten und später in Wien versammelten, um über Europas Zukunft zu verhandeln. Allein schon deshalb ist die Lektüre ein Genuss und unbedingt lohnenswert. Die Charakterbilder Zar Alexanders I. und des österreichischen Außenministers Metternich sind brillant. Zugespitzt könnte man sagen, dass der Kongress ein Zweikampf zwischen diesen beiden Männern war. Der Zar, der zunehmend in religiöse Schwärmereien abdriftete, sah sich als Wohltäter und Beschützer Europas, während Metternich zu verhindern suchte, dass an die Stelle der französischen Hegemonie eine neue russische Hegemonie trat. Aber auch andere Persönlichkeiten - die Außenminister Großbritanniens und Frankreichs, Castlereagh und Talleyrand, das preußische Duo Hardenberg und Humboldt, Metternichs unverzichtbarer Mitstreiter Friedrich von Gentz - werden als Menschen aus Fleisch und Blut greifbar, die die Revolutionszeit und Napoleons Griff nach der Vormacht auf dem Kontinent als Erschütterung der Zivilisation erlebt hatten und ihre konservativen Wertvorstellungen zur Grundlage der neuen europäischen Ordnung machten. Von Zamoyskis Kunst, historische Figuren lebendig werden zu lassen, können gerade deutsche Historiker und Geschichtsprofessoren einiges lernen (wenn sie es denn wollten).
Die detaillierte - mitunter etwas zu detaillierte - Schilderung des Wiener Kongresses beginnt erst in Kapitel 16. Zuvor behandelt Zamoyski das ereignisreiche anderthalbe Jahr zwischen Napoleons Rückkehr aus Russland und seiner Abdankung im April 1814. Mit dem Scheitern des Russlandfeldzuges war Napoleons Schicksal keineswegs besiegelt, wie Zamoyski betont. Es bedurfte erst der Niederlage von Leipzig, um die Herrschaft des Korsen über Europa ins Wanken zu bringen. Napoleons Gegner bildeten lange Zeit keine geschlossene Front. Zu unterschiedlich waren ihre Vorstellungen, wie mit Napoleon umzugehen sei und wie die Neuordnung Europas erfolgte sollte. Es war Castlereaghs hartnäckigen Bemühungen zu verdanken, dass überhaupt eine formelle Allianz zustande kam, die sich dem Ziel verpflichtete, Napoleon unschädlich zu machen. Die unterschiedlichen, zum Teil gänzlich unvereinbaren Vorstellungen der Verbündeten überschatteten den Wiener Kongress, der viel länger dauerte als ursprünglich geplant. Die in Wien versammelten Staatsmänner standen vor der schwierigen Aufgabe, einen Ausgleich zwischen den Interessen der einzelnen Großmächte einerseits und dem gesamteuropäischen Interesse an einer belastbaren Friedensordnung andererseits zu erzielen. Die "egoistischen" Interessen einzelner Staaten mussten gegen das Bedürfnis des Kontinents nach Frieden und Stabilität abgewogen werden. Eine Rückkehr zum Status quo von 1789 war ausgeschlossen, und deshalb waren Enttäuschungen vorprogrammiert. Viele Anspruchsteller, die auf eine Restitution ihres Besitzes und ihrer Rechte gehofft hatten, verließen Wien mit leeren Händen. Zar Alexanders Ansprüche auf Polen und Preußens Wunsch, sich ganz Sachsen einzuverleiben, führten zu Zwietracht und Streit, ja beinahe zu einem neuen Krieg. Anschaulich schildert Zamoyski diese Auseinandersetzungen und die Frustration der vielen Verlierer des Kongresses, die sich dem Diktat der fünf Mächte unterwerfen mussten.
Neben der umfangreichen Sacharbeit des Kongresses - Klärung von Grenzverläufen und Gebietsansprüchen; Wiedereinsetzung der von Napoleon gestürzten Herrscherhäuser; Neuordnung Deutschlands auf föderativer Grundlage (Deutscher Bund); Klärung der Polnischen und Italienischen Frage - nimmt Zamoyski auch das turbulente gesellschaftliche Leben in den Blick. Dazu gehören nicht nur die Festlichkeiten und Vergnügungen, die den Kongressteilnehmern geboten wurden, sondern auch die vielen Liebesaffären, die in einer "Atmosphäre der Promiskuität" angeknüpft wurden. Politik und amouröse Eskapaden gingen unterschiedslos ineinander über. Die Monarchen und Staatsmänner pendelten ständig zwischen den Konferenzräumen und den Boudoirs ihrer Mätressen. Das lockere und genussfrohe Treiben in Wien war ein letzter Nachhall des Ancien Régime, bevor das Jahrhundert der bürgerlichen Sittenstrenge und Prüderie begann. Alle diese Aspekte bündelt Zamoyski mit der sicheren Hand des erfahrenen Autors zu einer figuren- und anekdotenreichen Geschichte, deren Farbigkeit und Schwung die meisten anderen Bücher über den Wiener Kongress nicht einmal annähernd erreichen. Ob Zamoyskis Buch Fachhistoriker zufriedenzustellen vermag, sei hier dahingestellt. Das Kartenmaterial, die Quellennachweise und die stattliche Bibliographie genügen sehr wohl wissenschaftlichen Ansprüchen. Zamoyski schreibt nicht für einen kleinen Kreis von Fachleuten, sondern für ein breites Lesepublikum. Wer eine spannende und unterhaltsame Geschichtsdarstellung auf solider Quellengrundlage lesen möchte, der wird bei Zamoyski - wieder einmal - voll auf seine Kosten kommen. Dass Zamoyski keineswegs nur ein Erzähler ist, zeigt sich am Ende des Buches. Im letzten Kapitel unterzieht er die "Wiener Ordnung" und ihre Folgen für die weitere europäische Geschichte einer kritischen Würdigung, deren Schärfe und Vehemenz sicher manche Leser überraschen und vielleicht zu Widerspruch herausfordern wird (Genaueres sei hier nicht verraten). Das Buch bietet somit auch Anstöße für eine Diskussion über die Rolle des Wiener Kongresses als Quell neuer Konflikte, sowohl innerhalb einzelner Staaten als auch auf der Ebene des europäischen Staatensystems.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im November 2014 bei Amazon gepostet)