Cover des Buches Das unvollendete Bildnis (ISBN: 9783596175840)
Stefan83s avatar
Rezension zu Das unvollendete Bildnis von Agatha Christie

Mord - rückblickend betrachtet

von Stefan83 vor 8 Jahren

Rezension

Stefan83s avatar
Stefan83vor 8 Jahren

In kaum einer anderen Phase ihrer langen Karriere als Schriftstellerin war die „Queen of Crime“, Agatha Christie, derart produktiv wie während der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Allein zehn ihrer Werke erschienen in den 40er Jahren, darunter vier aus der Reihe um den Meisterdetektiv Hercule Poirot. Einer davon ist „Das unvollendete Bildnis“. Ein Titel, welcher insofern bemerkenswert ist, weil Christie hier zu den Wurzeln des klassischen britischen Kriminalromans zurückkehrt und die Tradition des Armchair-Detectives fortführt, der keinerlei Notwendigkeit darin sieht, den Schauplatz des Verbrechens zu betreten oder gar das wohlige Wohnzimmer zu verlassen und rein anhand der vorliegenden Fakten und mithilfe der Aussagen der Beteiligten in der Lage ist, den Fall zu lösen. Auch wenn sich der kleine Belgier im vorliegenden Buch dann doch etwas mehr bewegen muss, sieht er doch keinerlei Sinn darin, sich „zu bücken, um Fußabdrücke zu messen oder Zigarettenstummel aufzulesen oder niedergetretenes Gras zu studieren".

„Das unvollendete Bildnis“ (in Großbritannien als „Five Little Pigs“, in den USA als „Murder in Retrospect“ erschienen) zeigt deutlich auf, dass sich die Zeit des „Golden Age“ der Kriminalromane Mitte der vierziger Jahre langsam aber sicher dem Ende zuneigt. Der Plot wirkt inzwischen wie das Relikt einer vergangenen Epoche, die Erzählung – im Kontext zu den Schrecknissen des Krieges und dem aufstrebenden Hardboiled auf der anderen Seite des Atlantiks – einfach nicht mehr zeitgemäß. Christies Versuch, nochmal in Sherlock Holmes' Fußstapfen zu wandeln, ist dabei auch das Spiegelbild eines aufkommenden Überdrusses bezüglich ihrer Schöpfung Poirot, welche zwar zum damaligen Zeitpunkt noch den Großteil ihres Einkommens sicherte, aber auch einen Mühlstein verkörperte, den abzulegen sie genauso wenig in der Lage war, wie Sir Arthur Conan Doyle seinen Helden, der selbst einen tiefen Sturz in die Wässer des Reichenbachfalls überleben „musste“, um den Unmut seines Lesepublikums zu besänftigen. Geforderte Auftragsliteratur und Kreativität – das geht selten und äußerst schwer Hand in Hand, wenngleich man im Fall von „Das unvollendete Bildnis“ auch vorab betonen muss: Selbst eine etwas schwächere Agatha Christie ist die aufgebrachte Lesezeit durchaus immer noch wert.

Kurz zum Inhalt: Seine Malerei und seine Leidenschaft für die Frauen haben Amyas Crale berühmt gemacht, sein Tod hingegen war eher unrühmlich. Vor sechzehn Jahren wurde seine Frau wegen Giftmordes an ihm zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Der Fall schien anhand der Beweislage klar, selbst der damalige Verteidiger sah keine Chance, das Urteil anzufechten. Die notorische Untreue ihres Gatten trieb dem Gericht nach Caroline Crale zu ihrer Tat. Fünf Zeugen stützten diese Ansicht, wobei einige sogar Sympathie für die gedemütigte Ehefrau aufbrachten, andere wiederum den Mord als logische Konsequenz ihres rachsüchtigen, kalten Wesens titulierten. Zur Überraschung aller Anwesenden fügte sich Caroline Crale vor Gericht widerstandslos in ihr Schicksal. Mehr noch: Schon nach kurzer Zeit in Haft beging sie im Zuchthaus Selbstmord.

Inzwischen ist die damals fünfjährige Tochter Carla volljährig und erhält zu ihrem Geburtstag nicht nur das Verfügungsrecht über das Erbe der Crales, sondern auch einen Brief ihrer Mutter, in dem diese beteuert, den Mord an ihrem Vater nicht begangen zu haben. Carla ist von den Worten und ihrer Unschuld überzeugt, und wendet sich an Hercule Poirot, um diesen zu beauftragen, nach all den Jahren die Wahrheit ans Licht zu bringen. Eine große Herausforderung und damit genau das Richtige für den eierköpfigen Belgier und dessen graue Zellen. Nach und nach sucht er die fünf Zeugen von damals auf, hört sich deren Versionen der damaligen Ereignisse an und stößt dabei gleich auf einige interessante Indizien, welche den Fall in einem neuen Licht erscheinen lassen. Doch reichen diese, um die Ehre Caroline Crales wieder herzustellen? Als Poirot die relevanten Fakten gesammelt hat, ruft er alle fünf zusammen …

Wie auch schon zuvor in „Das Geheimnis der Schnallenschuhe“ und „Und dann gabs keinen mehr“ (und später auch in „Das Geheimnis der Goldmine“ und „Die Kleptomanin“) verwendet Agatha Christie auch hier ein Leitthema aus einem Kinderreim als Titel – in diesem Fall „This little Pig“, der sich wie folgt zusammensetzt:
„This little piggy went to market.
This little piggy stayed at home.
This little piggy has roast beef,
This little piggy had none.
And this little piggy cried "Wee! Wee! Wee!" all the way home."

Dies ist nur oberflächlich betrachtet eine Spielerei seitens Christie, sind doch bei genauerem Hinsehen damit die fünf Zeugen gemeint, welche Poirot auf den Kinderreim überträgt, um seine Gedanken während der Ermittlungen zu ordnen. Und Ordnung tut dringend Not, muss der Detektiv doch dieses Mal mit den verblassenden, subjektiv gefärbten Erinnerungen seiner Zeugen arbeiten, welche in all den Jahren Zeit genug hatten, um ihre Gedanken zu sortieren und im richtigen Moment das Richtige zusagen, damit die eigenen Interessen gewahrt werden. Das ist auch ein Grund warum Poirot in „Das unvollendete Bildnis“ zuallererst den damaligen Justizapparat (Ankläger, Verteidiger, Polizeibeamte) aufsucht, in der Hoffnung, einen einigermaßen neutralen Blick auf die Vorgänge rund um den Mord an Amyas Crale zu erhalten. Wenngleich eine Notwendigkeit, so setzt doch dieses Vorgehen ein gewisses Maß an Geduld beim Leser voraus, muss sich dieser doch die Geschehnisse, wenn auch in veränderter Form, gleich mehrfach erzählen lassen. Wer Agatha Christie kennt, weiß allerdings, dass genau inmitten dieser augenscheinlich unschuldigen Wiederholungen der Schlüssel zur Lösung des Falls steckt, den ich abermals nicht zu entdecken in der Lage war, weil ich mich dann doch lieber überraschen und unterhalten lasse, als selbst investigativ tätig zu werden. Spürnasen sollten die schriftlichen Berichte, welche die fünf Zeugen Poirot zukommen lassen, jedenfalls genauso mit scharfen Auge betrachten, wie das titelgebende unvollendete Bildnis.

Das Feld der Verdächtigen setzt sich dabei aus Figuren zusammen, die geradezu charakteristisch für die Kriminalromane der „Queen of Crime“ sind. Von der resoluten, feministischen Haushälterin über den oberflächlichen Dandy bis hin zur leidenschaftlichen jungen Dame ist fast alles vertreten, was auch sonst die Sets des klassischen Whodunits bevölkert, wobei es schon erstaunlich ist, wie die Autorin es in ihrer Karriere geschafft hat, diesen stereotypen Persönlichkeiten stets ein paar neue Facetten abzuringen. Das Konstrukt bleibt letztlich aber trotzdem ein künstliches. Ein Zugeständnis an die zwanzig Regeln des Detektivromans (aufgestellt von S. S. Van Dine), welche Christie zwar selbst das ein oder andere mal gebrochen, jedoch immer auch in Teilen für ihre Handlungen verwandt und im Hinterkopf behalten hat.

„Das unvollendete Bildnis“ ist ein Poirot-Fall, der nicht lange im Gedächtnis haften bleibt, wenngleich auch diesmal wieder alles stimmig zu Ende geführt, die Identität des Mörders mit Logik und dank Poirots Finesse offenbart wird. Wie das weitere Schicksal des Täters/der Täterin aussieht – darüber schweigt Christie sich in diesem Roman (und zum einzigen Mal in ihrer Karriere als Krimi-Autorin) allerdings aus.

Trotzdem: Der große Funke, er zündet nicht. Auch weil der Spannungsbogen durchgehend flach und der belgische Detektiv über die gesamte Distanz emotional ziemlich unbeteiligt bleibt. Ein Job, nicht mehr, so die Wirkung auf den Leser, der Poirots Akribie und Sturheit aus früheren Tagen schmerzlich vermisst. Inwieweit sich hier der bereits oben erwähnte Überdruss ob ihrer eigenen Schöpfung offenbart, mag jeder für sich beurteilen. Es ist jedenfalls auffällig, dass Christie allein zwischen den Jahren 1935 bis 1942 dreizehn Romane mit den belgischen Detektiv schrieb (nur fünf mit anderen Hauptfiguren), in den kommenden acht Jahren diesen jedoch nur noch zweimal auftreten ließ.

Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks