"Le voyeur" ist ein merkwürdiges Leseerlebnis. Da wird einem ein junger Mann beschrieben, der auf einer Insel als reisender Verkäufer Uhren an bescheiden lebende Fischerfamilien verkaufen will. Zwanghaft genau errechnet sich Matthias, so heisst die Hauptfigur, wieviele Uhren er in wieviel Zeit verkaufen wird. Er hat jedoch nur einen Tag lang Zeit, da die Fähre nur alle drei Tage fährt und der Vertreter bei einem längeren Aufenthalt all sein möglicherweise verdientes Geld verlieren würde. Seine Lage ist also prekär. Matthias kommt auf der Insel an und der Leser erfährt, dass er dort aufgewachsen ist. Aber niemand kennt ihn. Er trifft auf wortkarge Leute, die ihm jedoch nicht feindselig gesinnt sind. Er zeigt ihnen die Armbanduhren, indem er mit immer derselben Geste den Deckel hebt und den Prospekt beiseite legt. Niemand interessiert sich - oder doch, manchmal zeigt eine Kneipenwirtin oder jemand anderes Interesse. Er fährt mit einem gemieteten Fahrrad über die holprigen Strassen der Insel und nimmt die Gegend bis ins kleinste Detail war. Wir als Leser sehen es durch seine Augen, aber wir erfahren nie, was der Mann fühlt. Er scheint einfach nur registrieren, festzustellen und abzuschätzen, bei welchem Häuschen er Chancen hat eine Uhr abzusetzen. Bei all diesen Beschreibungen wird es einem aber nie so langweilig, dass man das Buch weglegen würde. Etwas hält einen gefangen. Ist der der gepflegte, präzise Schreibstil des Erzählers. Ist es die Neugierde des Lesers? Keine Ahnung. Jedenfalls wird das Ausharren belohnt. Etwas Schreckliches geschieht: Ein Mädchen wird nackt am Meeresstrand gefunden. Aber anstatt dass sich nun die Ereignisse überschlagen, werden weiterhin nur die äusserlich sichtbaren Ereignisse und Gegenstände erzählt. Das Mädchen ist tot, die Bevölkerung redet von einem Unfall, einem Absturz von einer Meeresklippe, als wolle sie jeden Gedanken an einen Sexualmord unterdrücken. Der Uhrenvertreter verstrickt sich in die Geschichte. Jeder Gegenstand, eine weggeworfene Zigarettenkippe, ein Kleidungsstück werden jetzt zu Indizien, die ihn als Lustmörder entlarven könnten. Gut, dass er so zwanghaft aufpasst und immer alles registriert, nicht wahr? Als Leser wird man machtlos in die Situation dieses gefühlslosen Menschen gesetzt, der auf jedes Wort und auf jede Reaktion achtet, die gegen ihn verwendet werden könnten. Auf diese Weise bleibt der Roman in einer höchst unheimlichen Grauzone, in der nichts wirklich deutllich wird, aber vieles vermutet werden kann. Selbst das beschriebene Wetter ist windig und grau und die lebendigsten Wesen, die in diesem Buch vorkommen sind die Möwen.
Es ist ein faszinierendes Werk mit einer experimentellen Erzählweise, welche die Stimmungen und auch das Grauen hinter dem scheinbar Banalen eindrucksvoll vor Augen führt.
Alain Robbe-Grillet
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
Alle Bücher von Alain Robbe-Grillet
Die Jalousie oder die Eifersucht
Die Wiederholung
Der Augenzeuge
Angélique oder Die Verzauberung
Ansichten einer Geisterstadt
Le voyeur
Die blaue Villa in Hongkong
LA Jalousie
Neue Rezensionen zu Alain Robbe-Grillet
Ein Buch, das der französischen Strömung des "Nouveau roman" zuzuordnen ist. Dieser entstand in den 50er Jahren und wandte sich ausdrücklich gegen die Konventionen im traditionellen Roman wie beispielsweise eine stringent-chronologische Erzählführung, subjektivierte Schilderungen von Umständen und Charakteren und wollte sich einer Sinnzuweisung durch Interpretationen entziehen.
Dass Alain Robbe-Grillet zum absoluten Kern der Strömung zählt, lässt sich an "Le Voyeur" problemlos erkennen: Die extrem neutrale Erzählweise lässt nur wenig Schlüsse auf das Innenleben des Protagonisten, Uhrenverkäufer Mathias, zu. Auch die Chronologie der Geschichte bleibt undurchsichtig. Man weiß nie genau, was Realität ist und was entweder eine Rückblende in Mathias Leben oder eine seiner Phantasievorstellungen darstellt.
Mathias, ein fahrender Uhrenverkäufer, scheint unter Druck zu stehen: Er legt für einen Tag auf einer Insel an, auf der er offenkundig einiges verkaufen sollte um sich über Wasser halten zu können. Bereits auf dem Boot plagen ihn Phantasien?/Erinnerungen? an ein kleines Mädchen in eindeutigen Posen. Angekommen reist er von Haus zu Haus und versucht recht erfolglos seine Uhren an den Mann zu bringen. Die Frauen, die ihm unterwegs begegnen oder von denen er phantasiert, erscheinen fast alle in einem sexuell unterwürfigen Kontext. Nachdem er bei einer Familie alter Bekannter erfährt, dass die junge Tochter alleine Schafe hüten gegangen ist, fährt er mit dem Rad an die entsprechende Klippe. Es folgt ein Bruch in der Geschichte, Mathias findet sich auf der Straße wieder und der Leser hat keine Ahnung, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Das Mädchen gilt jedoch im Folgenden als verschwunden, ihre Leiche wird bald aus dem Meer gefischt: Sie wurde vergewaltigt und stranguliert. Nach und nach deuten alle Indizien auf Mathias. Doch was auf den ersten Blick eindeutig erscheint wird niemals greifbar...
Der Roman ist aufgrund der Durchmischung von Phantasie/Realität und seiner chronologischen Brüche sowie der detailverliebten, streng sachlichen Beschreibungen recht schwer zu lesen und mutet unglaublich "strange" an. Dem Leser gleitet hier quasi alles durch die Finger, er kann sich an nichts festmachen. Eine Antwort auf die Frage, ob Mathias das Mädchen ermordet hat, wird niemals gegeben und auch der Leser wird sich am Ende nie ein sicheres Urteil bilden können-alle Interpretationsversuche führen ins Leere.
Fazit: Ein Buch, das ganz sicher nicht zum "Lesegenuss" bestimmt ist, sondern im Grunde ein literaturwissenschaftliches Experiment darstellt, das systematisch gegen traditionelle Erzählkunst verstößt. Aber faszinierend ist das Ganze schon.
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