"Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur wir sind unterwegs. Er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen. Das ist es, was wir Sterben nennen. Wenn wir an Bord angekommen sind." Seite 165
"Traumschiff" von Alban Nikolai Herbst ist ein faszinierendes "Ander"- Buch. Melodisch im Sprachstil, philosophisch tiefergehend und neuartig in der Idee.
Langweilig? Nur für den, der sich nicht einlassen möchte. Für andere Leser eine unbeschreibliche Art der Reise ins Innere selbst.
Gregor Lanmeister begiebt sich auf Schiffsreise. Nicht zum ersten Mal betritt er als Geschäftsmann in Rente ein Kreuzfahrtschiff, doch dieses Mal ist die Reise anders.
Freundet er sich schnell mit gleichgesinnten Rentnern an, wird bald auffällig, dass die Fahrgäste unterschiedlicher Natur sind: Die einen besitzen "das Bewusstsein", können das Schiff nicht mehr verlassen, sondern reisen mit ihm Richtung Tod, die anderen sind Touristen ohne Bewusstsein, die Vergnügen, Landgänge und temporären Urlaub geniessen.
Nach dem Tod eines wichtigen Freundes beginnt Gregor das Schweigen. Er benötigt Zeit für die Gedanken, für Eintragungen in ein Tagebuch und über ein Resümee seiner Lebensentscheidungen. Und je länger er schweigt, desto tiefer versinkt er in sich selbst.
Eigenartig, entrückt, und dennoch erstaunlich spannend. Ich tauchte völlig ein, wurde entschleunigt und lernte einen mir unbekannten Herrn durch seine Gedankengänge kennen. So intensiv, schillernd bunt, weniger emotional, es geht nicht um eine Abrechnung, auch nicht um ein "sich abgrenzen wollen", es dauert und dauert an, bis man mit sich im Reinen ist, und irgendwann erkennt man, es braucht keine Worte. Und wenn man dann reden möchte, sind keine Worte mehr übrig.
Ich habe noch nie ähnliches gelesen und möchte dieses Buch niemals missen, es ist verrückt, aber "brauchbar".
Schade, dass jede Reise zu Ende geht, auch wenn Gregor Lanmeister ein fehlbarer Mensch in aktiver Zeit gewesen sein mag, die stille Zwiesprache zwischen Leser und seinem Gedankengut wird mir fehlen.
Alban Nikolai Herbst
Lebenslauf
Alle Bücher von Alban Nikolai Herbst
Traumschiff
Die Orgelpfeifen von Flandern
Meere
Eine Sizilische Reise
Buenos Aires. Anderswelt
Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen
Selzers Singen
Neue Rezensionen zu Alban Nikolai Herbst
„Lange habe ich gedacht, dass wir einander erkennen. Aber das stimmt nicht. Wir verstehen uns nur“ sind die ersten Sätze von Herbsts „Traumschiff“, die den Leser empfangen und ihn in einen Roman ziehen, welcher immer wieder zum Innehalten und Nachdenken zwingt.
Der Leser begleitet den fast 70-jährigen Gregor Lanmeister auf seiner Reise. Er ist ein Protagonist, der aufgehört hat zu reden, aber viel zu erzählen hat. Lanmeister schreibt von zahlreichen Kladden, die er an Kateryna adressiert. Dieser Roman scheint eine solche Kladde zu sein, die die Pianistin an Bord erhalten soll, wenn Lanmeister stirbt. Denn er wird sterben. Dafür ist er an Bord des Traumschiffes gegangen. Gemeinsam mit 143 weiteren Menschen, die wie er das „Bewusstsein“ haben, nimmt er Abschied vom Leben.
Das Buch verbreitet trotz der Thematik keinen Schrecken, sondern schenkt Hoffnung: „Nicht einmal mehr vor dem Sterben habe ich Angst. Denn das wusste ich nun ganz genau, dass ich starb. (…) Das Bewusstsein ist gar nichts anderes. Nur dass es hier zu Licht wird“ (79). Der Roman verschweigt dabei nicht die schmerzvollen Momente des Prozesses. Lanmeisters Körper zerfällt im Fortschreiten der Geschichte. Er erleidet mehrere Anfälle und verliert die Kontrolle über seine Gliedmaßen. Es wird jedoch betont, dass Schmerz in diesem Abschnitt des Lebens seine Bedeutung verliert (49).
Humorvolle Passagen unterstreichen, dass Bedrücktheit nicht aufkommen soll. Leicht gewöhnt der Autor den Rezipienten an den Sterbeprozess und berührt ihn auf eine einzigartige Weise, indem er durch seine Unmittelbarkeit nichts verleugnet, aber durch fantastische Einschübe der Thematik seine Schwere nimmt. Der innere Monolog wird dabei im Schreibstil dem sterbenden Erzähler gerecht. Die Sätze brechen ab oder werden zum Teil grammatikalisch falsch vervollständigt. Lanmeister vergisst Details oder ganze Personen und setzt Informationen falsch, oder anders als zuvor, zusammen. Leerstellen in seinem Gedächtnis beunruhigen ihn jedoch nicht. Nur ein Außenstehender, der Leser, wird unruhig. Mit tiefsinnigen Passagen besänftigt der Text den Rezipienten wieder und nimmt ihn mit zum Zentrum seiner selbst. Es wird ein neuer Blick auf die Bedeutung des Lebens und speziell auf die Existenz von Menschen ermöglicht, die sich in ihrer Wichtigkeit nicht von anderen Lebewesen unterscheiden.
Das Buch regt somit zum Reflektieren an und lässt den Leser auch nach Beendigung des Romans nicht zur Ruhe kommen. Der Autor verzichtet auf eine vollkommene Aufklärung über die Tragweite der Traumschiff-Symbolik und überlässt es dem Rezipienten, interpretierend auf die Zeilen zurückzublicken. So lehrt das Buch den Umgang mit Personen, denen es nicht mehr möglich ist zu kommunizieren. Auch wenn die Person, die wir einmal kannten, tief in sich zurückgezogen ist, bedeutet es nicht, dass sie fort ist. Es bedarf, ihr weiterhin mit Respekt gegenüber zu treten. Der Körper nimmt stets wahr und so fühlt auch Lanmeister weiterhin. Wenn seine Ohren etwa hören, ob „wir denn heute schon Zähne geputzt [haben]?“ (148), fühlt er sich seiner Würde beraubt: „Weil man gar nicht mehr als eigenständige Person wahrgenommen wird. Sondern man wird unbesonders“ (148). Der Roman tritt mit dieser Perspektive für die ein, die es nicht mehr können und hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck, den man nicht missen möchte.
Dieses Buch geht den Fragen über Sterben, Vergessen, Würde nach. Es beschreibt Demenz aus Sicht des Betroffenen.
Dieses Buch ist nicht einfach zu lesen. Die ersten Seiten haben mich fast dazu gebracht das Buch wieder wegzulegen. Mir war gar nicht recht klar, um was es geht. Aber das klärte sich auf jeder Seite mehr. Ich bin froh, das ich dabei geblieben bin.
Beschrieben wird das Leben auf einem Kreuzfahrtschiff. Es gibt viele Passagiere, aber 144 besondere Menschen; sie haben „das Bewusstsein“. 144 wie die Steine in dem Spatzenspiel, dem Mah-Jongg-Spiel das immer wieder auftaucht. Sie werden das Schiff nicht lebend verlassen.
Der Kranke, der seine Geschichte in Kladden schreibt, in denen später aber nur seitenweise Koordinaten gefunden werden, ist verwirrt. Das wird schnell klar. Manche Sätze sind seltsam unvollständig, grammatikalisch unkorrekt. Doch diese fehlerhaften Sätze und Gedanken bergen oft eine wundervolle Poesie.
Er gibt oft zu, sich an etwas nicht erinnern zu können. Er verwechselt Namen und Menschen. Er wundert sich über den Besuch, der plötzlich neben ihm sitzt, völlig unbekannt, aber nach seiner Hand greift und beim Abschied weint. Doch das nimmt er alles stoisch hin. Er hat nämlich beschlossen nicht mehr zu sprechen. Er kommuniziert gar nicht mehr. Das wird später deutlich, als er in einer Szene plötzlich die Initiative ergreift (wie will ich hier aber nicht vorwegnehmen).
Doch das Buch ist nicht frustrierend, weil es ja davon ausgeht, dass hinter der starren Fassade etwas ist. Das der Mensch, den man kannte, sich nur irgendwie versteckt. Dieser Kranke hat viele positive und negative Erlebnisse und Empfindungen. Er empfindet sein Leben aber als lebenswert und benötigt diese Übergangszeit um Abschied davon zu nehmen.
Er versöhnt sich mit seinem jetzigen Leben, indem er sich auf ein luxuriöses Traumschiff wünscht, das die ganze Welt bereist.
Dieses Buch musste ich mir regelrecht erarbeiten. Aber diese Arbeit hat sich für mich gelohnt. Natürlich habe ich keine Ahnung, wie es in einem Kranken, der nicht mit der Außenwelt kommuniziert wirklich aussieht, aber es gibt mir Hoffnung. Und es erinnert mich mit jeder Seite daran, allen Menschen mit Respekt zu begegnen, auch wenn ich kein Echo erhalte.
Eine ausführlichere Rezension mit vielen Zitaten findet sich hier:
http://leckerekekse.de/wordpress/traumschiff/
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Zusätzliche Informationen
Alban Nikolai Herbst wurde am 07. Februar 1955 in Bensberg (Deutschland) geboren.
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