Ich liebe es, wenn Autoren einen ganz individuellen und besonderen Einstieg in ihr Werk wählen. Bonsai beginnt mit einem fetten Spoiler:
„Am Ende stirbt sie, und er bleibt allein, doch allein war er schon mehrere Jahre vor ihrem Tod, vor dem Tod Emilias. Sagen wir, sie heißt oder hieß Emilia, und er heißt, hieß und heißt immer noch Julio. Julio und Emilia. Der Rest ist Literatur:“
Der Plot ist nebensächlich, der Autor fasst ihn schon zu Beginn zusammen, weil der Leser wissen muss, dass es nicht um die Handlung geht. Die Personen sind austauschbar, sie heißen hier Julio und Emilia, doch im Grunde geht es um Liebe und Literatur. Eine große Liebesgeschichte im Miniaturformat. Ein Bonsai. Wenn ich „Bonsai“ nachschlage, so lerne ich, dass es eine Art der Gartenkunst sei, bei der Sträucher und Bäume in kleinen Gefäßen zur Wuchsbegrenzung gezogen und ästhetisch durchgeformt werden. Und genau das ist hier der Fall. Ein winziges, wunderschönes Meisterwerk mit einem ganz besonderen, eigenwilligen und individuellen Stil. Ein Bonsai hört außerhalb seines Gefäßes auf zu existieren und Julio und Emilia existieren nur im begrenzten Rahmen dieses Romans.
Es geht also um Emilia und Julio, zwei Literaturstudenten in Chile und um ihre Liebesgeschichte, die nur beginnt, weil Julio behauptet, Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gelesen zu haben, das siebenbändige Werk des französischen Autors. Emilia hat es selbst nicht gelesen.
„Mit der Zeit, die nicht lange, aber ausreichend war, vertrauten sie einander ihre intimeren Wünsche und Sehnsüchte an, ihre Maßlosen Gefühle, ihr kurzes übertriebenes Leben. Julio offenbarte Emilia Dinge, die man nur seinem Psychologen erzählt und Emilia machte Julio rückwirkend zum Komplizen jeder einzelnen Entscheidung, die sie im Laufe ihres Lebens getroffen hatte.“ (23)
„Seitdem vögelten sie eifrig miteinander, in fremden Wohnungen und in Motels, wo die Betttücher nach Pisco Sour rochen. So vögelten sie ein Jahr lang, ein Jahr, das ihnen kurz vorkam, auch wenn es lang war (…)“ (27)
Sie lesen gemeinsam Gedichte und Kurzgeschichten und finden immer wieder Passagen, die sie erotisieren, um einen Aufhänger zu haben, um zu vögeln. Sie lesen Romane und sie spielen Rollenspiele. Doch, wie bereits zu Beginn geschrieben, ist ihre Beziehung nicht von Dauer. Julios Liebe zu ihr schon, denn sie speist sich aus der Sehnsucht. Im zweiten Teil vermischen sich Geschichten, ist dies der Roman, ist es der Roman, den Julio abtippt oder doch der Roman, den er selbst im zweiten Teil des Romans schreibt?
Für wen ist dieser Roman etwas?
Ich würde diesen Roman jemandem schenken, in den ich verliebt bin. Wenn er ihn nicht mag, dann ist sein Herz tot, wenn er ihn nicht versteht, dann ist sein Hirn tot, wenn er ihn nicht erotisch findet, ist seine Hose tot.
Es ist ein kleines schmales Büchlein, das man in einer Stunde lesen kann, eines, das man gut verschenken und mitnehmen kann auf eine Zugfahrt, oder an den Strand, es ist ein Buch, das nachhallt, das man lesen kann und lange darüber nachdenken und diskutieren kann.