Cover des Buches Mr Gwyn (ISBN: 9783455000429)
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Rezension zu Mr Gwyn von Alessandro Baricco

Interessante Idee - einfühlsame Umsetzung

von Farbwirbel vor 7 Jahren

Kurzmeinung: Behutsam, kreativ und intensiv. Wer hätte vermutet, dass man ein Portrait so schreiben kann?

Rezension

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Farbwirbelvor 7 Jahren

Jasper Gywn ist ein gefeierter Autor, der eines Tages einen Artikel veröffentlicht mit Dingen, die er in seinem weiteren Leben nicht mehr tun möchte. Dazu zählt auch, dass er kein Buch mehr schreiben will – was seinen Verleger natürlich stark irritiert.

Lange sucht er nach einer passenden Beschäftigung für sich, bis er irgendwann eine abstruse, aber einnehmende Idee entwickelt.

„Ich habe ein Atelier in der Nähe der Marylebone High Street gemietet, ein großer Raum, sehr ruhig. Ich habe ein Bett und zwei Stühle hineingestellt, wenig mehr. Holzfußboden, alte Mauern, es ist schön dort. Was ich möchte, ist, dass Sie vier Stunden am Tag in dieses Atelier kommen, etwa dreißig Tage lang, von vier Uhr nachmittags bis acht Uhr abends. Ohne einen Tag auszulassen, auch den Sonntag nicht. […] Sie werden nicht in einer von mir gewünschten Haltung stillstehen müssen, sondern sich so in diesem Raum aufhalten, wie es Ihnen am besten gefällt, gehend oder liegend, sitzend, wo immer Sie möchten. Sie werden nicht sprechen und keine Fragen beantworten müssen, und ich werde Sie auch niemals bitten, irgendetwas Bestimmtes zu tun.[...]“ - S. 86

Er will Portraits schreiben. Damit sind keine Minibiographien gemeint oder Beschreibungen des äußeren Erscheinungsbild. Vielmehr will er die Person in seinem Inneren begreifen und daraufhin schreiben. Die Idee bringt ihm viel Skepsis aus seinem Umfeld ein, doch er bleibt dran, wenn er auch selbst nicht recht weiß, wohin dieses Unterfangen ihn bringt.

Als erstes beobachtet er die Assistentin seines Verlegers, was eine intensive Begegnung für die zwei ist, wie auch für den Leser, der den Prozess nachzuvollziehen sucht.

Später sollen noch andere Menschen von dieser Art des Portraitierens angetan sein und Gwyn wird recht erfolgreich damit.

Nebenbei entspinnt sich eine intensive Freundschaft zwischen der Assistentin und dem Schriftsteller und immer wieder gibt Gywn versteckte Hinweise auf das, was er nebenbei tut – so ganz wird man jedoch zuerst nicht schlau daraus.

Der Roman ist komplex gestaltet, denn immer wieder wird der Leser mit Hinweisen angefüttert, die erst zum Ende Verständnis bringen. Der Schreibstil ist klar, aber empfindsam. Das Lesen ist dabei recht genussvoll, wenn ich zu Beginn auch kleine Schwierigkeiten hatte, mich Mr. Gwyn zu nähern. Die Behutsamkeit, mit der Gwyn sein Vorhaben plant, berührte mich hingegen sehr – es war, wie dem Bericht eines Malers zuzuhören, der seine Farben selbst mischt, bevor er seine Arbeit beginnt.

Meiner Ausgabe hinten angestellt ist noch die Kurzgeschichtensammlung „Dreimal im Morgengrauen“, die sozusagen Mr. Gwyns Selbstportrait ist und von Alessandro Barrico erst später in Italien veröffentlicht wurde. So erhält man einen Einblick in die Art und Weise eines solchen Portraits, denn ansonsten liest man kein einziges – ist in seiner Phantasie selbst gefordert.

Diese Idee zu entwickeln und sie auf eine kunstvolle Art umzusetzen, war sicherlich kein leichtes Unterfangen. Ich war nicht darauf eingestellt, dass es sich um einen solchen Roman handeln würde, da er so gehypt wurde. Selten hat sich ein Hype berechtigter angefühlt.

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