Cover des Buches Königskinder (ISBN: 9783446260092)
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Rezension zu Königskinder von Alex Capus

Wie Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht...

von parden vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Alex Capus kann ich wieder einmal attestieren: ein wundervoller Geschichtenerzähler!

Rezension

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pardenvor 6 Jahren
WIE SCHEHERAZADE AUS TAUSENDUNDEINER NACHT...

Als Max und Tina in ihrem Auto eingeschneit auf einem Alpenpass ausharren müssen, erzählt Max eine Geschichte, die genau dort in den Bergen, zur Zeit der Französischen Revolution, ihren Anfang nimmt. Jakob ist ein Knecht aus dem Greyerzerland. Als er sich in Marie, die Tochter eines reichen Bauern, verliebt, ist dieser entsetzt. Er schickt den Jungen erst in den Kriegsdienst, später als Hirte an den Hof Ludwigs XVI. Dort ist man so gerührt von Jakobs Unglück, dass man auch Marie nach Versailles holen lässt. Meisterhaft verwebt Alex Capus das Abenteuer des armen Kuhhirten und der reichen Bauerntochter mit Max' und Tinas Nacht in den Bergen. Ein hinreißendes Spiel zwischen den Jahrhunderten...

Eine Geschichte in der Geschichte erzählt Alex Capus hier, dessen Romane ich seit der Lektüre von 'Léon und Louise' sehr mag. Während des Lesens hatte ich oftmals das Gefühl, sanft und leicht durch eine der Erzählungen von Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht zu gleiten - ein sehr angenehmes Empfinden. Und tatsächlich verrät der Autor selbst:

"Ich wollte diese Geschichte auf eine ganz natürliche, intime Weise erzählen – leise und vertraulich ins Ohr flüstern wollte ich meinem Leser die Geschichte, möglichst direkt und intensiv, wie Scheherezade in Tausendundeiner Nacht um ihr Leben Geschichten erzählt. Auch in meinem Roman befindet sich das Heldenpaar in einer existentiellen Notlage und hilft sich mit einer Erzählung durch die Nacht." ( ► Quelle: 5 Fragen)

Der Schwerpunkt dieses Romans liegt eindeutig in dem historischen Teil, der zur Zeit der Französischen Revolution spielt. Wenn man der Geschichte folgt, mag man kaum glauben, dass diese auf wahren Gegebenheiten beruht - Jakob, der arme Kuhhirte, und Marie, die Tochter des reichen Bauern, die ihre große Liebe nicht leben dürfen, weil Maries Vater und die Konventionen sehr eindeutig dagegen sprechen. Doch anders als in der traurigen Ballade von den Königskindern schreibt das Leben für Jakob und Marie einen anderen Verlauf. Denn Elisabeth, die kleine Schwester von Ludwig dem XVI., liegt Jakobs Wohl am Herzen: auf ihrem Musterbauernhof mit künstlichem Ziehbrunnen und glücklichen Tieren soll alles perfekt sein. Ein unglücklicher Kuhhirte schmälert das Streben nach 'der perfektesten aller Welten', weshalb die Schwester des Königs Marie ebenfalls nach Versailles kommen lässt.


"Aber kurz vor der Morgendämmerung, als es richtig kalt wird, geht er hinein und kriecht ganz nah zu Marie. Dann hebt sie ihre Decke an und breitet sie über ihm aus, und er nimmt seine Decke und breitet sie über Marie aus." (S. 47)


Als Rahmenhandlung fungiert der Erzählstrang um das ältere Ehepaar Max und Tina, die wider besseren Wissens den Weg über den Bergpass wählen und im Schnee stecken bleiben. Eine lange kalte Nacht steht ihnen bevor, und Max beschließt, die dunklen Stunden mit einer Geschichte zu überbrücken. Eine Eigenart der beiden ist es, über vermeintliche Kleinigkeiten endlos in eine Diskussion zu geraten, sich über Nichtigkeiten zu zanken ohne wirklich in Streit zu geraten. Dies liest sich teilweise ganz unterhaltsam, gerät für mein Empfinden jedoch manchmal zu anstrengend. Vor allem Tina hakt oftmals nach, wenn Max etwas sagt oder tut, und das Erzählen der Geschichte um Jakob und Marie besänftigte daher nicht nur Tina, sondern auch mich, wenn es mir mal wieder zu viel wurde mit der Diskutiererei des Ehepaares.


"Dann wird es still in der Nacht, und dann endlich geschieht es, weil die Musik die Barrikaden seiner Seele geschleift hat, dass Jakob niedersinkt und erstmals seit dem Abschied von Marie seinen Tränen freien Lauf lässt." (S. 117)


Unaufgeregt und mit einer unglaublichen Leichtigkeit erzählt Alex Capus seine Geschichte. Gerade im historischen Teil wird dabei eine intensive Recherchearbeit deutlich, denn viele kleine Elemente werden hier eingeflochten, die gemeinsam ein intensives authentisches Bild der Zeit um die Französische Revolution herum ergeben. Dazu gehört beispielsweise die Ballonfliegerei, die damals überall in Europa Mode wurde, ein heftiger Vulkanausbrüche auf Island, die Reisebedingungen in Frankreich, die Essgewohnheiten, die Arbeitsumstände, die Lebenserwartung - und die Gegebenheiten am Schloss von Versailles. Bei der Beschreibung der Zustände dort bröckelte bei mir innerlich der Glanz um das Hofleben mit jeder Zeile und machte haltlosen Zuständen und einem widerlichen Gestank Platz. Dabei musste ich oft lachen, denn die bildhaften Beschreibungen waren teilweise überaus skurril.


"Wenn zwölf Schweizer Milchkühe einem Bauern keine Milch geben, sagt Elisabeth, liegt das Problem, würde ich sagen, eher beim Bauern als bei den zwölf Milchkühen. Unter diesen Umständen sehe ich nicht ein, weshalb es die Kühe sein sollen, die man schlachten muss." (S. 84)


Überhaupt: der Humor. Ironie und Witz halten hier bei der ansonsten eher distanzierten Schilderung, die ein Märchen à la Scheherazade so mit sich bringt, immer wieder Einzug und würzen die Geschichte in genau der richtigen Dosierung. Aber auch andere Emotionen werden hier oftmals unerwartet transportiert und berühren einen beim Lesen.

Eine zarte Geschichte hat Capus hier geschrieben, durchdrungen von historisch verbrieften Gegebenheiten, angereichert mit märchenhaften Elementen aus Tausendundeiner Nacht und gewürzt mit einer gehörigen Prise Ironie und Humor. Diese Mischung hat mir gut gefallen, und auch wenn ich nicht verstanden habe, weshalb Max gerade diese Geschichte erzählt und was diese Erzählung womöglich mit den beiden zu tun hat, die gerade mit ihrem Auto in den verschneiten Bergen feststecken, fühlte ich mich von dem Roman insgesamt sehr gut unterhalten.

Alex Capus kann ich wieder einmal attestieren: ein wundervoller Geschichtenerzähler...


© Parden
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