Klymchuk macht es seinen Lesern/Innen nicht leicht. Aber das liegt nicht an ihm, sondern am Stoff, am Inhalt seiner Geschichten. In fast allen gibt es den „Lohengrin“-Moment, also das plötzliche und stets folgenreiche Erscheinen des Übernatürlichen, zumeist auch Unnatürlichen, in der realen Alltagswelt. Erklärungen werden nicht geliefert. Die Eindringlichkeit, ungeheure Plastizität und Gänsehaut-Virtuosität, mit der diese Schockmomente geschildert werden, verdanken sich einer erstaunlichen Disziplin im Gebrauch bewährter Stilmittel und genretypischer Topoi.
Der Autor erweist seinen Erzählungen den ihnen gebührenden Respekt, indem er voll und ganz hinter sie zurücktritt, ihnen kommentarlos ihr Eigenleben lässt und dieses dabei in großartiger stilistischer Meisterschaft in praller Anschaulichkeit in der Fantasie seiner Leserschaft erstehen lässt.
Worum geht es in den 13 Erzählungen von „Schattenseiten“? Um es in den unsterblichen Worten des von Klymchuk verehrten Shakespeare (dem in der Erzählung „Namagashi“ ausführlich Referenz erwiesen wird) auszudrücken: „There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy.“ (Hamlet, 1. Akt, 5. Szene) (Das Zitat findet sich in deutscher Übersetzung auch in „Namagahsi“)
Hier nun ein geraffter Überblick über das, was einen in den 13 Stories von „Schattenseiten“ erwartet:
Festtagsrituale
Jahr 2051: eine Dystopie von ergreifender Intimität.
Morgengrauen
Eine zutiefst pessimistische Story, in der der Zombie-Horror unfröhliche Urständ feiert.
Teufelswerk
Bayrischer Alpenhorror, in der eine alte Sagengestalt weiter ihr letales Unwesen treibt.
Namagashi
Eine merkwürdige Grusel-/Monsterstory mit interessanten Einblicken in japanische Sagentradition. Ausführliche Shakespeare-Zitate. Die Kehrtwendung, die die Handlung nimmt, verrät die Pranke eines mit allen Wassern gewaschenen Horror-Profis.
Gegenübertragung
Der hinsichtlich Vielschichtigkeit, stilistischer Raffinesse und intellektuell herausfordernder Mehrdeutigkeit Höhepunkt der Anthologie. Ein zu wiederholter Lektüre zwingendes Sciencefiction-Abenteuer, das einen kühnen Bogen über Jahrhunderte hinweg spannt.
Blutacker
Religion: stets eine fruchtbare Inspirationsquelle für Rache- und Fluchgeschichten. Äußerst gelungene Beschreibung einer polizeilichen Vernehmung hinter Klostermauern.
Invictus
Exzellente Imitation lateinischen Schrifttums mit profunden Kenntnissen des altrömischen Militärs und einer monströsen, nicht mehr überbietbaren Apokalypse.
Himmelskörper
Science-Fiction mit dystopisch-endzeitlichen Anklängen. Aber letztlich eine beinah heitere, leise optimistische und klug konstruierte Montage aus zwei parallelen Handlungssträngen.
Schlachtrufe
In mehrfacher Perspektive erfahren wir von einer unheimlichen Racheaktion der von der Menschheit erbarmungslos ausgebeuteten und unterdrückten Natur. Allerdings ist die Lektüre aufgrund mehrerer in regionalem Dialekt gehaltener Dialogpassagen für Mundart-Unkundige stellenweise etwas mühsam.
Kreuzweg
Auch hier kämpft der ortsunkundige Leser mit möglicherweise unvertrauten Mundart-Ausdrücken. Ansonsten lässt uns der Autor guten alten Raunachthorror im Kleinstadtmilieu in seiner ganzen Teuflischkeit erleben.
Tempus fugit
Ein weiterer Höhepunkt hinsichtlich Sprachvirtuosität in einer klug konstruierten Geschichte um einen jahrhundertealten Fluch. In der Welt der Kunstmaler tun sich Abgründe auf, die wir nie für möglich gehalten hätten …
Entfremdung
Hier erfährt der real erlebte Horror der Tschernobyl-Katastrophe eine Steigerung, die einem wahrlich Angstschweiß verursacht …
Niemandsland
Ein weiteres Mal: die Apokalypse. Klymchuks Vertrauen in die Vernunft und Friedensliebe der Weltmächte scheint nicht allzu groß zu sein. An Intensität und Lebensnähe sucht diese Beschreibung einer in Schutt und Asche gebombten Großstadt Deutschlands jedenfalls ihresgleichen!
Abschließendes Fazit: Das Werk eines Meisters, vielleicht sogar ein Meisterwerk?! Hier ist noch viel, noch sehr viel zu erwarten!