Dieser Untertitel wäre meiner Meinung nach passender für Alexander Münninghoffs Der Stammhalter. Roman einer Familie. Denn Daten und Fakten, das Auflisten von Personen- und Familiennamen, die genaue Angabe von Ort und Zeit und das Entflechten von Geschäfts- und Verwandtschaftsbeziehungen geben dem autobiographischen Werk eindeutig seinen Rhythmus vor. Chronologisch beginnend erzählt Münninghoff von seinem niederländische Großvater, dem „Alten Herrn“, der Anfang des 20. Jahrhunderts aufgrund eines guten Geschäftssinns zu Reichtum kommt und diesen auch dank seines ausgeprägten Opportunismus in den Kriegs- und Nachkriegsjahren bewahren kann; er berichtet von seinen Kindern, namentlich vom eigenen Vater, einem ehemaligen SS-Soldat, der sein ganzes Leben lang der Kameradschaft des Zweiten Weltkrieges nachtrauert, während er beim Streben nach Reichtum und Macht zum Scheitern verurteilt bleibt. Und mittendrinn schildert er seine eigene Kindheit und Jugend, hin- und hergerissen zwischen der Mutter, die vom Patriarchen verstoßen wird, und der väterlichen Familie, die ihn als Stammhalter sieht, ihm jedoch keine Liebe schenkt.
Es sind schwere Themen, die Alexander Münninghoff in seinen 330 Seiten starken Roman packt. Und es sind persönliche, vielleicht sogar zu persönliche Themen, die er hier zur Sprache bringt. Das erklärt vermutlich den leichten, durchaus um Heiterkeit bemühten Tonfall, der Distanz zwischen dem Erzähler und dem Erzählten bringt – das gleichzeitig ja auch ein Erlebtes ist, wenn nicht von ihm selber, dann von Menschen, die ihm nahestanden oder ihn geprägt haben. Ein verständlicher Schutzmechanismus, der allerdings auch dem Leser jeden emotionalen Zugang zum Text verwehrt und der – deutlich schlimmer – die fragwürdigen Handlungen der Familienmitglieder nicht kritisch genug beleuchtet. Der eigene Vater bei der SS, doch eigentlich zu naiv und freundlich, um Menschen zu töten? Der Großvater, der es schafft von 1939 bis 1945 seinen Reichtum und seine Macht zu bewahren, ohne dabei direkt oder indirekt Blut Unschuldiger an den Händen zu tragen? Der bis zu seinem Tod die Nazivergangenheit seines Sohnes zu vertuschen versucht, weil er ja eigentlich nur ein verwirrter junger Mann war und nicht wusste, was er tat? Gerade als deutsche Leserin schmerzt diese Geschichtsvergessenheit, das Nicht-Sehen-Wollen, vor allem aber das Nicht-Klar-Benennen-Wollen: Der Vater war ein faschistischer Mörder, der Großvater ein über Leichen gehender Opportunist. Fast nebensächlich scheint dabei, dass alle Frauenfiguren im Roman (und wohl auch im wirklichen Leben) schwache, von Trieben und Geltungssucht getriebene Personen zu sein scheinen. Ein Verhalten, das moralisch freilich weniger schwer ins Gewicht fällt als das das der männlichen Charaktere, das jedoch vom Erzähler ebenfalls durchgehend entschuldigt und verharmlost wird.
Und so beschleicht einem schnell die Ahnung, dass dieses Buch nur für den Autor selber geschrieben wurde. Um zu erinnern. Um die Erinnerungen einzuordnen. Um auch zu verstehen, in was für eine Familie man da hineingeboren wurde, die voller Geheimnisse, Laster und Kriege zu sein scheint. Um sich vielleicht davon zu lösen oder – weil das wohl doch nicht möglich ist – die einzelnen Mitglieder freizusprechen, ihr Verhalten zu relativieren und in einem zweiten Schritt sich selber zu beschwichtigen und eine mögliche „Erbschuld“ kleinzureden. Es bleibt die Frage, was den Leser an dieser Familiengeschichte zu interessieren hat? Sicherlich, vor allem im ersten Teil schafft Münninghoff eine versunkene Welt, das Europa der Vorkriegsjahre und das Leben der gutbürgerlichen und gutvernetzten Elite heraufzubeschwören, und Faszination für diese alte Zeit zu wecken. Doch mit jeder weiteren Figur, jedem weiteren Ortswechsel, jeder weiteren Datumsangabe, die wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht werden, versiegt dieser Reiz und die Anstrengung der Lektüre überwiegt.
Wie bewertet man nun so ein Buch? Es ist Münninghoffs Leben und seine Weise, damit umzugehen. Das kann man bis zu einem gewissen Punkt akzeptieren und hinnehmen. In dem Moment, wo diese Geschichte publiziert wird und auf eine Leserschaft trifft, betrifft sie jedoch nicht mehr allein dein Autor und seinen engsten Familienkreis. Das unkritische Betrachten der Familie in den düstersten Jahren der jüngsten Geschichte ist, wenn auch vielleicht verständlich, nicht hinzunehmen. Das Buch unabhängig von diesem Makel zu betrachten – also lediglich hinsichtlich Erzählweise, Figurenzeichnung, Plotentwicklung – scheint unmöglich. Der Leser bleibt allein zurück mit einem beklemmenden Gefühl, in dem sich Traurigkeit mit Zorn paart, Faszination mit Ekel, Anteilnahme mit Gleichgültigkeit – und in das sich auch eine gewisse Überforderung mischt. Ich ziehe mich ratlos und zugegebenermaßen etwas feige mit einer 3 Sterne-Bewertung aus der Affäre.