Rezension zu "Das geheime Leben der Dalai Lamas" von Alexander Norman
Ein ausgewogenes Bild tibetischer Geschichte und Kultur
Geschichte und Mythologie Tibets, ihrer weltlichen und geistlichen Führer - der Dalai Lamas - sowie deren Religion - der Buddhismus - verknüpft Alexander Norman in dem prall gefüllten Kompendium "Das geheime Leben der Dalai Lamas. Die Geschichte der Gottkönige von Tibet" detailliert und tiefgründig.
Noch heute gilt Tibet als "heilige Stätte", als "Weisheitskern der Welt". Seine Menschen werden als "Hüter einer spirituellen Schatzkammer" und seine Religion als "innere Wissenschaft der höchsten Erkenntnisse" betrachtet.
Die westliche Welt hat eine wahre Begeisterungswelle für diese "einzigartig friedliche Religion" des Buddhismus entfacht und stilisiert auch die tibetische Landschaft zum "einzigartig friedlichen Ort".
Verstärkt wird dies durch den derzeitigen 14. Dalai Lama, der durch sein Eintreten für Frieden und Harmonie der Religionen zu einer Ikone geworden ist. Seine Bücher stehen auf den Bestsellerlisten, erzielen Millionenauflagen und werden in über vierzig Sprachen übersetzt. Wo immer er in der Welt auftritt, füllt er ganze Arenen und beherrscht die Schlagzeilen. Sein Konterfei schmückt unzählige "Fan-Artikel".
Doch kaum jemand weiß um die Entstehung dieser einzigartigen Institution der Gottkönige.
In seinem Buch "Das geheime Leben der Dalai Lamas. Die Geschichte der Gottkönige von Tibet" versucht Alexander Norman - der buddhistische Philosophie studierte und seit über zwanzig Jahren mit dem derzeitigen Dalai Lama (Tenzing Gyatso) befreundet ist - die Hintergründe des Mythos Tibet und dessen weltlicher und geistlicher Führer vom Beginn bis in die heutige Zeit zu dokumentieren und auszuleuchten. Dabei wird offensichtlich, dass die tibetische Geschichte zwar eine leidenschaftliche und traditionelle, aber durchaus auch blutige und alles andere als friedliche war.
Norman beginnt sein Buch mit einem grausamen Vorfall am 4. Februar 1997, als der siebzigjährige Mönch, Lehrmeister und Leiter des Instituts für Dialektik - Lobsang Gyatso - und zwei seiner Schüler brutal ermordet wurden. War die eigentliche Zielscheibe der Dalai Lama? Steckte China hinter diesem Anschlag?
Der Mord wurde nie aufgeklärt.
Alexander Norman nimmt diesen Vorfall als Aufhänger, um die Figur des Dalai Lama vor ihrem Hintergrund zu beleuchten.
Chronologisch nimmt der Autor - unter Zuhilfenahme zahlreicher historischer Quellen sowie Monografien und Aufsätzen von überwiegend europäischen Autoren - den Leser auf eine Reise von den Anfängen tibetischer Kultur bis in die Jetztzeit mit. Eine Kultur, deren Weltsicht das Fundament einer ausgeklügelten Astrologie und hoch entwickelten - und (insbesondere im Westen) immer beliebter werdenden - Volksmedizin bildet.
Norman zeigt auf, "dass der Dalai Lama über seine buddhistischen Glaubensbrüder weitaus weniger Macht ausübt als beispielsweise der Papst über die Katholiken." Wohltuend nüchtern wählt er dabei einen Kurs "zwischen der Verklärung Tibets zum Shangrila und Chinas Darstellung von Tibet als überkommenes Feudalsystem, zwischen dem populären Bild des Dalai Lama als New-Age-Ikone und seiner Diffamierung als Betrüger."
Entstanden ist dabei ein ausgewogenes Bild der tibetischen Geschichte und Kultur sowie ein Porträt, "das die wahre Größe des gegenwärtigen Dalai Lama wiedergibt."
Aus der wiederholten Versicherung des Dalai Lama, dass er auch "nur ein gewöhnlicher Mensch" sei, leitet Alexander Norman ab, dass sämtliche Vorgänger ebenfalls gewöhnliche Menschen waren. "Außergewöhnlich ist dagegen die Institution der Dalai Lamas", die jedoch keineswegs etwas Fernes und Geheimnisvolles ist, sondern vielmehr ein lebendiges Bindeglied zu einer Gesellschaft, die vielleicht einzigartig und auf jeden Fall im Schwinden begriffen ist: eine Gesellschaft, in der Altruismus und nicht materieller Reichtum als Gipfel des Menschseins angesehen wird."
Von deren Ursprung und Geschichte erzählt dieses Buch.
"Das geheime Leben der Dalai Lamas. Die Geschichte der Gottkönige von Tibet" ist ein umfassendes Werk, mit einer Fülle an Daten, Fakten und geschichtlichen Details. Dabei betrachtet Alexander Norman nicht nur die weltlichen Hintergründe, sondern verwebt alles mit den mystischen, mythischen und spirituellen Traditionen der Religion des Buddhismus. Für den Laien könnte dies leicht zur Überfrachtung auf Grund der Fülle der fremdländischen Namen und Traditionen führen. Für den interessierten Leser jedoch ist das Buch ein hilfreiches und interessantes Werk, um am Ende die Geschichte Tibets aus einer umfassenden Perspektive betrachten zu können.
Hervorzuheben ist auch die sehr gute Übersetzung durch Ursel Schäfer und Enrico Heinemann, die dazu beigetragen haben, dass dieses Buch trotz seiner Fülle leicht lesbar und durchaus spannend ist.