Ohne die Berühmtheit Robert Louis Stevensons (RLS) wäre vermutlich das Buch über seine Frau nicht entstanden. Dabei dürften sie und ihre Familie zum Ruhm Stevensons enorm viel beigetragen haben. Zu dem Ergebnis muss man jedenfalls kommen, will man dem Lebensroman der geborenen Fanny Vandegrift, verheiratete und geschiedene Osbourne, schließlich bekannt geworden als Mrs Robert Louis Stevenson, Glauben schenken. - Alexandra Lapierre hat ihrem Werk „Die Vagabundin“, das als romanhafte Biographie einzuordnen ist, nicht nur einen Hinweis vorangestellt, in dem es unter anderem heißt, dass alle in dem Buch genannten Fakten „absolut exakt“ sind, sondern einen Anhang beigefügt, aus dem sich ersehen lässt, wie viel umfangreiche Quellen sie verarbeitet hat. Bereits an dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der deutsche Titel vermutlich einen größeren Leserkreis ansprechen wollte als der französische Originaltitel (Fanny Stevenson), aber der Gestalt von Fanny Vandegrift kaum gerecht wird. Zweifellos entbehrt Fannys Leben nicht einer Abenteuerlichkeit, die in gewisser Weise sogar grenzenlos erscheinen mag. Vor allem, wenn man bedenkt, dass sie ein Kind des 19. Jahrhunderts war, erscheint Fannys Lebensweg mehr als ungewöhnlich, auch wenn man in Betracht zieht, dass sie nicht nach kontinental-europäischen Verhältnissen beurteilt werden darf. Aus ihrer Geburtstadt, der Hauptstadt des US-Staates Indiana, kam sie jung verheiratet nach San Francisco, von Kalifornien über New York und die Landenge von Panama führte sie ihr Weg in die Silberminen von Nevada und von dort nach der Trennung von ihrem Ehemann mit ihren drei Kindern wieder nach Kalifornien und schließlich nach Europa; Antwerpen, Paris, wo ihr zweiter Sohn starb und wo sie RLS kennenlernte, und als unbegabte Malerschülerin Grez (Ile-de-France) waren ihre weiteren Stationen; nach einem kurzen Abstecher nach Großbritannien (London/Chelsea, Liverpool) ging es über Irland nach New York, Indiana und wieder nach Kalifornien (Sacramento); Heirat mir RLS in San Francisco, wieder nach Großbritannien, von dort in die Adirondack Mountains, dann Aufenthalte und Reisen in der Südsee und am Äquator und Entscheidung für einen festen Wohnsitz in Samoa, wo RLS an Schwindsucht verstarb; neues Leben mit einem zwei Jahrzehnte jüngeren Lebensgefährten in Amerika, Europa und letztlich wieder in Kalifornien, wo ihr bewegtes Leben sein Ende fand. - Daneben dürften für den deutschen Buchtitel, auf den ich erneut eingehen muss, zwar nicht nur die vielfältigen örtlichen Veränderungen bestimmend gewesen sein, sondern auch Fannys Suche nach ihrer Lebensaufgabe, die sie wohl nicht ausschließlich in der Begleitung ihres zweiten Mannes gesehen hatte. Trotzdem bringt die deutsche Bezeichnung als Vagabundin einen negativen Beigeschmack zum Ausdruck, den Fanny Vandegrift nicht verdient hat. Sie muss eine Frau von großer Lebenskraft, Anziehungskraft und Geisteskraft gewesen sein. Das Buch über sie gibt dafür ein beredtes Zeugnis. Auch darf nicht ganz übersehen werden, dass Fanny keineswegs ungebildet war, aus guter Familie stammte und dass ihre beiden überlebenden Kinder ein nicht alltägliches Format besaßen. Eine Frau, die unter ihren Mitmenschen das Ansehen genoss, das ihr in dem Buch bescheinigt wird, eine Frau, die ihren einer Liaison seines viel jüngeren Sohnes mit ihr von Grund auf abgeneigten Schwiegervater für sich einzunehmen vermag, die Frau, zu der sich RLS untrennbar hingezogen fühlte und der er sein auf den Anfangsseiten des Buches wiedergegebenes herrliches Gedicht „Meine Frau“ widmete, kann ich nicht in Verbindung bringen mit einer Vagabundin. Allenfalls ihr Geist mag frei von Konventionen gewesen sein. Wer das Buch liest, wird meine Ansicht teilen müssen.
Rezension zu "Die Vagabundin" von Alexandra Lapierre