Ein Ich-Erzähler, zwei Kulturen. Die marokkanischen Wurzeln des jungen Mannes kollidieren in diesem Roman von Alexandre Hmine immer und immer wieder mit seiner Lebensrealität im Tessin. Von seiner viel zu jungen Mutter wurde er kurz nach seiner Geburt zu Elvezia, einer alten Witwe, gegeben, die ihn umsorgt und in einem sorglosen Idyll groß werden lässt. Je weiter die beiden Kulturen sich vermischen, je mehr seine marokkanische Familie und seine Schweizer Heimat aufeinanderprallen, desto schwieriger gelingt es dem Jungen, Halt zu finden, sich zu positionieren innerhalb der Gesellschaften. Zunächst mit großer Leichtigkeit, schließlich aber unter enormen Anstrengungen durchläuft er seine Schul- und anschließende Universitätslaufbahn und wird Lehrer. Die ganze Zeit begleitet wird er von Mutter, Stiefvater und -schwester, der marokkanischen Verwandtschaft und seinen italienischen und Schweizer Freunden, Bekannten und Sportkollegen. Er lernt Mädchen, später Frauen kennen, verliebt sich nie so richtig, verliert sich dafür aber zusehends selbst.
„Du musst Schäfchen zählen, hallt Elvezias Echo nach.“ (S. 247)
Alexandre Hmine hat einen Roman geschaffen, der hart an der Grenze zwischen Autobiographie und fiktionaler Erzählung verläuft. Er trägt Erlebnisse aus seiner eigenen Kindheit und Jugend zusammen, fiktionalisiert sie und verwebt sie zu den Episoden seines Protagonisten. Er erzählt dabei keine linear und chronologisch verlaufende Geschichte, sondern präsentiert den Leser*innen Fragmente und Bruchstücke, die Bricolage-artig zusammengefügt werden und stets die Leerstellen erkennen lassen.
Hmine fügt die Ereignisse nie zu einem großen Ganzen zusammen, sondern verbleibt in einer mosaikartigen Struktur. Gepaart mit einer eher spröden Sprache fällt es dabei zumeist recht schwer einen Zugang zur emotionalen Verfasstheit des Protagonisten zu erlangen. Hmine bleibt den ganzen Roman über zurückhaltend, hält die Leser*innen auf Distanz und deckt wie in einem Puzzle nur immer mal wieder ein Teil auf. Gleich danach dreht er es wieder um und öffnet eine neue Episode.
Die Zerrissenheit der Hauptfigur, die sich in einem permanenten Prozess der Identitätssuche befindet, wird dadurch stilistisch prägnant gezeichnet. Mir fiel es dennoch sehr schwer, einen Zugang zu den Figuren oder der Erzählung zu finden. Zu sehr fühlte ich mich in Gänze auf Abstand gehalten, zu künstlich, wenn auch kunstvoll gemacht, empfand ich die auf 250 Seiten angewendete episodenhafte Erzählweise. Inhaltlich ein wichtiges Buch mit einer klaren Stimme, die das Verlorensein des Individuums zum Ausdruck bringt, aber dennoch für mich mit nur leisem emotionalen Nachhall.
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