Wer wir sein wollen...
von parden
Kurzmeinung: Ein eindringlicher Roman wider den Rassimus - unbedingt lesenswert!
Rezension
WER WIR SEIN WOLLEN...
Seine Familie glaubt an die Überlegenheit der weißen Rasse, und damit scheint für den jungen Jessup alles entschieden. Doch nach der Rückkehr seines Stiefvaters aus dem Knast und einem tragischen Unfall muss er endlich selbst Antworten finden auf die Fragen: Was glauben, wem folgen, wen lieben?
Alexi Zentner hat einen Anschlag von Neonazis auf sein Elternhaus in Literatur verwandelt. Gegen Hass und Gewalt setzt er die Kraft des Erzählens. Gegen Hetze und Fanatismus die Fähigkeit, sich einzufühlen, in einen jungen Mann auf der anderen Seite … Eine Farbe zwischen Liebe und Hass ist ein augenöffnendes Familienporträt, ein packender Coming-of-Age-Roman, eine Geschichte über Loyalität, Zugehörigkeit und die Gefühle in den dunkelsten Ecken des heutigen Amerikas.
"Ich wollte erkunden, wie Hass die Liebe verkompliziert, wie die Liebe uns blind machen kann für die Gefahren um uns herum, und wie Rassismus und Hass auch in den Leben derer wirken, die denken, sie haben sich auf niemandes Seite geschlagen." (S. 7)
Dieses Zitat stammt aus dem kurzen Vorwort des Autors, das bereits sehr eindrücklich war und mich mit einer leisen Gänsehaut zurückließ. Dann: tief durchatmen und eintauchen in die Geschichte. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des 17jährigen Jessup, der mit seiner Familie in einem Trailer in Cortaca im Staat New York wohnt. Sein Stiefvater sitzt seit vier Jahren im Gefängnis, weil er genau wie Jessups Bruder an der Tötung von zwei Afroamerikanern beteiligt war - Notwehr, wie Videoaufnahmen eigentlich darlegen. Aber hier wurde offensichtlich ein Exempel statuiert.
Denn Jessup gehört, wie der Rest seiner Familie auch, der "Heiligen Kirche des Weißen Amerika" an, einer rassistischen Vereinigung, die im Namen Gottes auf die Rechte der Weißen pocht. Vor diesem Hintergrund war der Prozess gegen Jessups Bruder und Stiefvater kein fairer, alles wurde unter dem Vorwurf des Rassismus beleuchtet, die Aussage des Videos heruntergespielt.
"Wir versuchen niemandem etwas wegzunehmen. Wir wollen nur unsere von Gott gegebenen Rechte. Wenn wir uns nicht gegen die umgekehrte Diskriminierung zur Wehr setzen, bleibt uns am Ende nichts." (S. 279)
Jessups Familie ist arm. Seit sein Stiefvater im Gefängnis sitzt, hat sich der nun 17Jährige bemüht, seine Familie so gut wie möglich zu unterstützen. Er ist fleißig in der Schule, denn sein Ziel ist eine gute Ausbildung, er erzieht seine kleine Schwester mit so gut es geht, er hat zwei Minijobs, um einen dringend benötigten finanziellen Beitrag zum Lebensunterhalt der Familie zu leisten, und er geht jagen, um den Gefrierschrank im Trailer stets gefüllt zu halten. Und Jessup hat eine heimliche Freundin, Deanne, die Tochter des Coaches seiner Footballmannschaft, eine Afroamerikanerin.
Nun jedoch gerät das fragile Gleichgewicht seines Alltags ins Wanken, denn sein Stiefvater wird aus dem Gefängnis entlassen. Sofort erinnern sich alle in der kleinen Stadt an den damaligen Vorfall, und fortan wird alles, was Jessup tut oder lässt, in diesem Licht beleuchtet: er ist Teil einer rassistischen Familie und Gemeinschaft. Und egal, wie Jessup sich verhält: nichts davon erscheint mehr richtig.
"...und Jessup, egal, was er auf dem Spielfeld leistet, egal, was er in der Schule leistet, wird auf ewig in die falsche Familie hineingeboren sein, wird sich auf ewig auf der falschen Seite wiederfinden. So wie ihn alle anstarren, weiß Jessup, dass er hier nicht gewinnen kann." (S. 106)
Die Lage spitzt sich zu, als ein Unfall geschieht - ein Unfall mit fatalen Folgen. Jessup weiß nicht, wie er sich verhalten soll, gerät zwischen die Fronten, wird als Politikum genutzt - hüben wie drüben. Hass gegen Hass, Fronten stoßen aufeinander, Jessup mittendrin. Er weiß nicht, wie er dem Dilemma entkommen kann, liebt seine Familie, will und kann sich nicht gegen sie stellen.
Doch wer will er eigentlich sein?
"...ist es nicht natürlich, mit Menschen zusammen sein zu wollen, die wie man selbst sind?" (S.97)
Auch wenn der Einstieg in den Roman nicht ganz leicht fiel, weil hier ausführliche Passagen eines Footballspiels geschildert wurden, mit denen ich persönlich wenig anfangen konnte, empfand ich gerade das erste Drittel als absolut eindringlich. Die Innensicht Jessups, seine Rückblenden, versetzten mich zunehmend in seine Situation - und damit in eine Lage zunehmender Ausweglosigkeit.
Das war teilweise derart bedrückend, dass ich das Buch trotz der kurzen Kapitel und des eingängingen Schreibstils immer wieder weglegen musste, um später wieder in kleinen Portionen weiterzulesen. Wie Jessup auch sah ich ihn unweigerlich ins offene Messer rennen, wollte die Zeit anhalten, musste es doch geschehen lassen. Jessup hat viel zu verlieren, Freundschaften stehen auf dem Prüfstand, seine Hoffnung auf ein anderes Leben abseits vorgefertigter Schubladen, seine Liebe zu Deanne, seine Familie...
Ich war fast erleichtert, als sich der Blickwinkel ab dem zweiten Drittel des Romans etwas erweiterte. Zwar stand Jessup auch weiterhin im Fokus des Geschehens, doch die Geschehnisse um ihn herum nahmen jetzt einen breiten Spielraum ein. Dadurch konnte ich mich von dem Gefühl der Ausweglosigkeit etwas distanzieren - und wie Jessup fassungslos mitansehen, welche Folgen der faltale Unfall letztlich nach sich zog.
Alexi Zentner hat einen Roman wider den Rassismus geschrieben, dabei eine ungewöhnliche Perspektive gewählt. Dadurch wird ungemein deutlich, wie Hass Gegenhass gebiert, dem einen Rassismus ein weiterer gegenüber gestellt wird. Und es wird klar, wie wichtig es ist, eine klare Position zu beziehen - auch Stillhalten signalisiert ein Einverständnis. Der Preis, den es kostet, sich dem entgegenzustellen, was nicht richtig sein kann, wird allerdings ebenso deutlich.
Ein sehr eindringlicher Roman, der auch ein anderes Ende vorstellbar macht, dessen Auflösung mich aber berühren konnte. Ich will hier mit demselben Zitat enden wie der Autor in seinem Roman, denn nichts könnte ein besseres Schlusswort bilden:
"Niemand wird geboren, um einen anderen Menschen wegen seiner Hautfarbe, seiner Lebensgeschichte oder seiner Religion zu hassen. Menschen müssen zu hassen lernen, und wenn sie zu hassen lernen können, dann kann man sie auch lehren zu lieben, denn Liebe empfindet das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil." [Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit] (S. 377)
Unbedingt lesen!
© Parden