Der große Claessens ist tot. Der einstige Starpianist und Stardirigent erlag seiner kurzen Krankheit. Zur Beerdigung in Genf sind nicht nur die Mitglieder des Orchestre de la Suisse Romande, dem er mehr als 20 Jahre als Dirigent vorstand, anwesend, auch die Haute Voile der Musikszene und Schweizer Gesellschaft gibt ihm die letzte Ehre. Von seiner Familie allerdings ist nur Tochter Ariane anwesend. Sie wird Schostakowitschs Opus 77 in der Klavierfassung zur Totenmesse vortragen.
Und während sich Ariane auf ihren Auftritt vorbereitet, lässt sie ihre Kindheit und ihr Leben Revue passieren, die unmittelbar mit dem Schicksal ihres Bruders David verbunden sind.
Als wir noch eng verbunden waren, David und ich, tauschten wir niemals Blicke oder Zeichen, die für die Zuschauer sichtbar gewesen wären. Wir funktionierten als Duo, vollkommen aufeinander eingestimmt, indem wir mit dem Atem des anderen mitschwangen.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Mein Stiefvater, Willy Bohring, war Soloflötistin im Stadtorchester Bremerhaven und durch ihn habe ich Zugang zur Welt der klassischen Musik erhalten. Ich bringe als Leserin dieses Romans somit eine Voraussetzung mit, die nicht zwingend notwendig ist, die aber anfänglich durchaus hilfreich erscheint.
Damit ich den Roman besser verstehe, höre ich mir Schostakowitschs Violinkonzert Opus 77 etwa zur Hälfte des Buches an.
Der Interpret spielt die Geschichte eines anderen, als erzählter er sein eigenes Leben zum allerersten Mal oder zum allerletzten Mal vor dem Tod, während in Wahrheit alles längst geschehen und notiert ist.
Lassen Sie sich durch die Nocturne nicht abschrecken, warten Sie ab und hören Sie das Konzert bis zum Ende! Wie verständlich auf einmal die Musik wirkt!
Um Opus 77 zu spielen, musst du ganz unten gewesen und dort eine Weile geblieben sein, sagte der alte Armenier immer.
Während ich nun weiterlese, bleibt mir die Musik Schostakowitschs im Ohr. Dazu verbindet Ragougneau die Lebensgeschichte seiner Interpreten, erzählt durch Ariane, die einen direkten Kontakt zu mir als Leserin sucht. Darauf reagiere ich stark und fühle mich angesprochen und aufgefordert, der Handlung aufmerksam zu folgen.
Jetzt aber fordere ich Sie auf, sich Schostakowitschs Violinkonzert Opus 77 nochmals anzuhören und dann nochmals vor der literarischen Ausführung zur Passacaglia ab S. 190. (N.b. auf youtube finden Sie u.a. das Konzert mit David Oistrach, das ich Ihnen ausdrücklich ans Herz lege). Was für ein Rausch der Gefühle, was für eine mentale Verausgabung, was für eine Wollust und Sehnsucht nach unerreichbarer Perfektion! Und was für eine Tragik, dem Lebensweg von David zu folgen. Emotionale Höhenflüge treffen auf menschliche Abgründe, dargeboten in einer einzigartigen sprachlichen Ausdrucksweise, die ich in dieser Intensität nur bei Lenz Deutschstunde gefunden habe.
Fazit
„Opus 77“ von Alexis Rgougneau ist ein Meisterwerk der französischen zeitgenössischen Belletristik. und gleichzeitig eine unglaublich opulente, sprachgewaltige Umsetzung von Schostakowitschs Violinkonzert Opus 77. Literarische Kunst auf höchstem Niveau.
Nehmen wir uns einen Moment, um darüber nachzudenken.