Cover des Buches On the run (ISBN: 9783956140457)
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Rezension zu On the run von Alice Goffman

Leidenschaftlich, zutiefst einfühlsam und verstörend

von JulesBarrois vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Ein wichtiges Stück Sozialwissenschaft, erfrischend und herrlich lesbar.

Rezension

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JulesBarroisvor 9 Jahren

On the run – Alice Goffman (Autor), Noemi von Alemann, Gabriele Gockel, Thomas Wollermann (Übersetzer) 368 Seiten, Verlag: Kunstmann, A; Auflage: 1 (1. April 2015), 22,95 €, ISBN-13: 978-3-95614-045-7

Sie weiß wovon sie redet: Als Alice Goffman im zweiten Jahr an der University of Pennsylvania war, nahm sie einen Nachhilfe Job bei Aisha, einem jungen schwarzen Mädchen an, die in einer nahe gelegenen schwarzen Nachbarschaft lebte. Sie freundete sich dann mit Aisha Verwandten, und mit deren Cousine Ronny an, der gerade aus einer Jugendstrafanstalt entlassen worden war. Alice Goffman lernt durch Ronny dessen Cousin Mike und seine Freunde kennen. Als ihr Mietvertrag auslief, zog sie in Aishas Nachbarschaft.

Kurz vor dem Ende des Schuljahres fragte sie Mike, ob sie ihre Abschlussarbeit über sein Leben schreiben könne. Er willigte ein unter der Bedingung, dass Namen und Gegend verdeckt sein sollten. Sie nannten es einfach 6th Street-Bereich. Nach ihrem Abschluss an der Penn, lebte Goffman während eine Promotion an der Princeton für weitere vier Jahre in der 6th Street-Bereich, machte sich Notizen über alles, was sie sah und hörte. Und daraus ist dieses Buch entstanden. Alice Goffman wurde Zeugin und auch Opfer der fast täglichen Polizeirazzien und Diskriminierungen. Sie taucht ein in die Subkultur, in die Familien und das Leben, eines Teiles der Stadt, der vielleicht etwa fünf Blocks umfasst.

Auf der Flucht beginnt mit der Beschreibung des ständigen Kampfes um die Kontrolle über die Straßen und Häuser der 6th Street-Bereich. Auf der einen Seite dieses Kampfes steht die Polizei von Philadelphia. Sie hat den politischen Auftrag, Drogenverkauf und Gewaltverbrechen durch "hartes Vorgehen" und "Nulltoleranz" für illegale Aktivitäten zu reduzieren. Auf der anderen Seite des Kampfes steht eine ziemlich kleine Gruppe von jungen, arbeitslosen schwarzen Männern, aber auch viele der älteren Bewohner des Viertels. Die älteren Bewohner sind nicht gegen die Verringerung des Drogenkonsums oder der Gewaltverbrechen. Sie hassen nur die Art, wie die Polizei dieses Ziel verfolgt.

Alice Goffman liefert einen nüchternen und ernüchternden Bericht über eine auf den ersten Blick chaotische Welt um sie herum. Aber wo andere nur das Tollhaus sehen, findet Alice Goffman logische Muster. Sie beschreibt die von Tag zu Tag lebende Gesellschaft, die vor allem von Menschen "auf der Flucht" handelt.

Der Kern von Alice Goffmans Ethnographie dreht sich um eine kleine Zahl von jungen Männern - Chuck, Mike, Tim, Reggie, Alex und ein oder zwei andere. Sie erzählt die Geschichte von ihren rechtlichen Verwicklungen, ihren "Krieg" mit anderen jungen Männern aus den benachbarten Gebieten, ihre Versuche, eine Art von Leben zu führen, sich als Mann zu beweisen und, mehr als alles andere, um die unmögliche Aufgabe, Festnahmen zu vermeiden. Diese jungen Männer, über die sie schreibt, sind Gejagte. Sie leben in einer sozialen und rechtlichen Struktur, die offiziell die neoliberalen Prinzipien der Chancengleichheit für alle vertritt. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus: Rund 2,3 Millionen Menschen sitzen in amerikanischen Gefängnissen und weitere fünf Millionen sind in irgendeiner Form unter Strafaufsicht gestellt. Das ist fünfmal mehr als in England. Und vor allem jeder 15te afro-amerikanischer Mann über 18 ist eingesperrt, wohingegen nur jeder 106te weiße Mann einsitzt.

Ihre Hauptthemen sind hochpolitisch, umstritten und schockierend für die meisten von uns und auch von denen, die im Mainstream-Amerika leben. Ihrer Ansicht nach ist dies nichts weniger als eine aktualisierte Version des Rassismus, der Rassentrennung und Apartheid - einem schrecklichen amerikanischen Archipel Gulag.

In einem Buch, vollgestopft mit ergreifenden Beispielen und Episoden, ist eines, das sich durch ein Gespräch zwischen Chuck und seinem 12-jährigen Bruder Tim.

"Was wirst du tun, wenn du die Sirenen hörst?", fragte Chuck. - "Ich laufe weg", antwortete sein kleiner Bruder. - "Wohin?" - "Hierher." - "Das darfst du nicht - sie wissen, dass du hier wohnst." - "Ich verstecke mich im hinteren Zimmer im Souterrain." - "Glaubst du nicht, die werden mal eben die Tür einschlagen?" - Tim zuckte mit den Achseln. - "Du kennst, Fräulein Toya?" - "Ja." - "Du kannst zu ihr gehen." - "Aber ich kenn sie nicht so gut." – „Eben.“ "Warum kann ich nicht zu Onkel Jean gehen?" - "Weil sie wissen, dass er dein Onkel ist. Du darfst zu niemandem gehen, der etwas mit dir zu tun hat." (Seite 29)

Sie beschreibt diesen Kampf eloquent, mit kompromissloser Offenheit und Ehrlichkeit, in lebhaften Details und ohne akademischen Jargon. Sie hat offensichtlich mehr Sympathie für die Verfolgten als für die Verfolger, aber sie beschreibt die jungen Männer nicht als unschuldige Opfer, die von der Polizei verfolgt werden. Sie erzählt ihre Wutausbrüche untereinander und gegeneinander, die oft und schnell von verbaler zur physischen Gewalt umschlagen. Sie berichtet von Kokain und Marihuana, das gekauft, verkauft und konsumiert wird. Sie erwähnt Fälle, in denen Menschen jemand töten und sie erzählt, dass sie an neunzehn Beerdigungen von jungen Männer teilnahm, die durch Schüsse getötet wurden.

Sie sucht aber die Antwort auf die Frage des „Warum“ nicht in den charakterlichen Mängeln bei den Jugendlichen oder bei den Polizisten. Sie glaubt, dass es die Lösung für diese Probleme sei, mehr feste Jobs zu schaffen. Skeptiker fragen sich natürlich, ob diese jungen Männer wirklich keine Arbeit finden können, oder ob sie es vorziehen, nicht zu arbeiten.

Ich bezweifle, dass das Lesen von „On the Run“ viele Arbeitgeber dazu bewegen würde, ihre Zurückhaltung bei Einstellen schwarzer Ausgegrenzter aufzugeben. Aber Bücher wie dieses von Alice Goffman dienen dazu, die laufende Debatte über die Funktionsstörungen in Gesellschaft und ihren sozialen Ungerechtigkeiten anzustoßen, aufrecht zu halten und zu beleben. Und vielleicht einen Weg zu finden die inhärenten Talente in dieser Subkultur gesellschaftlich gewinnbringend zu nutzen. Leichter gesagt als getan.

Ein Stück Sozialwissenschaft, erfrischend und herrlich lesbar. Wichtig auch ihr fesselnder Anhang „Notizen zur Methodik“ (Seite 279 bis 346) Vor allem gilt für mich nach dieser Lektüre mehr als vorher: Die USA sind ein autoritärer Staat. Jede Art von Freiheitsbelehrung aus Amerika geht nicht mehr.

Hier geht es direkt zum Buch auf der Seite des Antje Kunstmann Verlages:

http://www.kunstmann.de/titel-0-0/on_the_run-1104/

Fragen Sie in Ihrer örtlichen Buchhandlung nach diesem Buch. Wenn Sie in meiner Gegend „Landkreis Merzig-Wadern“ leben, dann wenden Sie sich an die Rote Zora: http://www.rotezora.de

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