Anfang der sechziger Jahre passiert Magda der Alptraum jeder Ehefrau: ihr Mann hat eine jüngere Frau kennengelernt und lässt sich von ihr scheiden. Zwar galt damals im Falle einer Ehescheidung noch das Schuldprinzip (das Zerrüttungsprinzip wurde erst Anfang der 70er Jahre eingeführt), und Schuld war derjenige, der fremd ging. Was in diesem Falle hieß: Magda war es nicht. Doch in den Augen der württembergischen Dorfbewohner spielte das überhaupt keine Rolle, die Frau wird ihm schon einen Grund gegeben haben zu gehen. So wurde das in der kleinbürgerlichen Bonner Bundesrepublik der späteren Nachkriegsjahre von den Leuten gesehen. Auf Magda, die Geschiedene, wurde fortan mit dem Finger gezeigt, eine Scheidung kam in etwa einer Lepraerkrankung gleich: die Leute wechselten die Straßenseite, wenn Magda ihnen entgegenkam, sie grüßten nicht, sondern drehten sich weg, beim Bäcker oder Fleischer wurde Magda als Letzte bedient. Mit so einer wollte niemand etwas zu tun haben, Sozialkontakte – Fehlanzeige. Das gleiche galt für ihre zum Glück schon fast erwachsenen Kinder – die taugen nichts, mit einer geschiedenen Mutter. Ihr Sohn verlässt das Dorf bald, um nie zurückzukommen, und Ursula, ihre Tochter, macht den Vorurteilen alle Ehre und wird mit 17 schwanger. Der Erzeuger heiratet sie und rettet sie damit aus ihren asozialen Verhältnissen. So ist seine Sicht und die der Dörfler. Und Magda schlägt sich durch. Lebt von prekärer Arbeit, kommt immer gerade eben so zurecht. Hilfe von staatlicher Seite kommt für sie nicht in Frage, zeitlebens nicht. Und dann erlebt sie die schönste Zeit ihres Lebens, ihren Jahrhundertsommer, denn sie lernt John kennen, einen amerikanischen Besatzungssoldaten. Nur heimlich treffen sie sich, denn die Leute sollen das auf keinen Fall merken, noch mehr wäre ihr Ruf dann beschädigt, noch größer das Stigma. Es passiert, was passieren muss: Magda wird schwanger. Doch als ihr das klar wird, ist John längst weg, im nächsten Krieg in Vietnam. Aber Magda, ignorant wie sie ist, weiß das nicht, für sie ist er einfach ohne Abschied gegangen. Ein weiteres Mal wurde sie verlassen, eine neue Schande belastet ihr Leben.
Das ist die Ausgangssituation dieses Romans, der die Stimmung der Zeit, die Borniertheit der dörflichen Bevölkerung mit ihren Vorurteilen und rückwärtsgewandten Ansichten sehr gut einfängt. Warum geht Magda nicht weg, könnte man fragen. Doch der Gedanke kommt ihr gar nicht. Ihr Haus ist ihr Eigentum, von den Eltern übernommen, das gibt man nicht auf. Und was sollte sie woanders machen? Eine Ausbildung hat sie nicht. Und wohin dann mit dem Kind? Magda fehlt die Fantasie, sich ein anderes Leben in einer anderen Umgebung vorzustellen. Das Verhältnis zu Ellen, ihrer Tochter, bleibt distanziert, und Ellen, die im Gegensatz zu Magda Bildung erfährt, kehrt dem Dorf – und Magda - nach dem Abitur bei erster Gelegenheit den Rücken und geht nach Paris, das ist ihr Traum von Freiheit. Ich will nicht spoilern, deshalb verschweige ich hier, ob er sich erfüllt.
Die Handlung erstreckt sich über 4 Dekaden, vom Beginn der sechziger bis in die ersten nuller Jahre. Als Wegmarken lässt Alice Grünfelder einige markante historische Ereignisse einfließen, die immer auch ein stückweit unser Lebensgefühl bestimmten: der Vietnamkrieg, die Stationierung der Pershing-II-Raketen und die großen Friedensdemos wie in Mutlangen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, der Super-Gau von Tschernobyl 1986, 9/11 2001. Aber Magda berührt das alles nicht, sie hat mit sich und ihrem Überlebenskampf zu tun. Überhaupt bleibt sie seltsam distanziert, gegenüber ihren Kindern, für deren Interessen sie nicht eintritt, kein einziges Mal, gegenüber John, den sie verleugnet, der sich nach seiner Rückkehr aus Vietnam und viele Jahre später noch einmal bei ihr meldet und der vielleicht ihr Weg hinaus aus ihrem Elend hätte sein können, und sogar gegenüber sich selbst. Kann oder will sie das nicht erkennen? Erst am Ende ihres Lebens begehrt sie auf und erhebt ihre Stimme. Wie wäre ihr Schicksal wohl verlaufen, wenn sie sich dazu früher hätte durchringen können?
Alice Grünfelder wählt ein interessantes Stilmittel, indem sie häufig Sätze nicht beendet. Zu Verständnisproblemen führt das nicht, weil immer vollkommen klar ist, welches Wort, welche Worte fehlen. Das finde ich sehr geschickt, weil es den Text authentisch macht. Auf Dialekt verzichtet sie zum Glück. Der Roman ist multiperspektivisch erzählt, Magda, Ursula, Ellen und Viktor, Ursulas Sohn, kommen im Wechsel zu Wort. Alle leben im Schatten von Magdas Unglück. Sie mühen sich ab, nach oben zu kommen, um kurz vor dem Ziel den Halt zu verlieren und wieder abzustürzen. Allerdings darf man die Frage stellen: Was ist für sie oben, wo wollen sie überhaupt hin? Kennen sie selbst ihr Ziel? Und wie wollen sie da hin? Treffen sie dafür immer die richtige Entscheidung? Oder wählen sie den Weg des vermeintlich geringsten Widerstands? Aber auch vielen ihrer jeweiligen Altersgenossen und Wegbegleiter ergeht es ähnlich: sie sind eine zeitlang auf der Erfolgsspur, kehren dann in ihr Dorf zurück, um sich von einem Tiefschlag zu erholen, kommen aber nicht wieder auf die Beine. Wie viele Leben verlaufen in den erträumten Bahnen? Was macht ein gelungenes Leben aus? Können wir das immer beeinflussen, oder sind wir Gefangene unserer Umstände und unserer Zeit? Wie viel glücklichen Zufall brauchen wir, um erfolgreich und glücklich zu sein und auch zu bleiben? Darum geht es in diesem Buch.
Mir hat der Rückblick in westdeutsche Gesellschaftsstrukturen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr gut gefallen. Ich glaube, dass jede/r, der diese Zeit erlebt hat, eine Magda kannte oder zumindest von einer wusste. Magda ist keine Frau, mit der ich mich identifizieren kann. Ich mag ihre alles ertragende Haltung nicht besonders und hätte sie mir etwas kämpferischer gewünscht, egoistischer, weniger weggeduckt. Zu verlieren hatte sie ja bereits nichts mehr. Aber sie war auch nur ein Kind ihrer Zeit, Erziehung und Umgebung und vielleicht betrachte ich sie zu sehr mit meinem heutigen Blick und tue ihr mit meinem Urteil Unrecht.
Alice Grünfelder hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, über das man lange nachdenken kann. Wahrscheinlich kann und sollte man es nicht direkt vergleichen, doch gemessen an Magda klagen wir heute in vielen Punkten auf hohem Niveau.