Vor drei Jahren konnte man in einer der ehemals großen deutschen Zeitungen einen Artikel über Ray Dalio lesen, in dem dieser als besonders rücksichtslos dargestellt wurde. Dalio ist der erfolgreichste Hedgefond-Manager der Welt und verwaltet ein Kapitel, das das Bruttosozialprodukt vieler Staaten der Welt deutlich überschreitet. Nach der Schilderung in besagtem Artikel und nach dem Studium dieses kleinen Büchleins könnte man vermuten, dass Dalios Gehirn nach dem Asperger-Schema in der leichten Ausprägung funktioniert. Solchen Menschen geht es in erster Linie um Logik und Ehrlichkeit. "Normale" Menschen verstehen eine solche Herangehensweise nicht und interpretieren sie völlig falsch. Das scheint auch dem Zeitungsschreiber widerfahren zu sein.
Dalio lässt alle Gespräche in seiner Firma aufzeichnen. Damit will er seine Leute zu absoluter Ehrlichkeit und Transparenz zwingen. Er hasst Schleimer. Auch das stützt meine Asperger-Vermutung, denn solche Menschen besitzen kein Verständnis für das komplizierte Verhalten anderer, das sich nicht an Ehrlichkeit orientiert, sondern daran, einen für sie möglichst guten Platz in einer Gemeinschaft zu finden. So hält der Artikelschreiber der Zeitung Dalio natürlich auch für einen fürchterlichen Überwacher, obwohl das überhaupt nicht Dalios Absicht ist. Dalio geht es um den Erfolg seiner Firma und nicht darum, eine möglichst kuschelige Atmosphäre zu schaffen. Er braucht für den Erfolg Leute um sich, die so konstruiert sind wie er.
Fehler hält Dalio für ein Geschenk. Sie enthalten ein Rätsel, das man lösen muss, um erfolgreicher zu werden. Dazu muss man eigenständig denken und ergebnisorientiert diskutieren können. Es wundert auch nicht, dass Bridgewater systematisch nach fundamentalen Kriterien vorgeht und sich nicht auf die scheinbare Genialität eines Fondmanagers verlässt. Darüber hinaus ist man nicht beta-orientiert, misst sich also nicht an einem oder mehreren Märkten. Die einzelnen Anlagen sind so unabhängig voneinander wie es überhaupt geht, was das Gesamtrisiko erheblich senkt, und man hält sie relativ lange. Das alles kann man etwas detaillierter im ersten Teil dieses Büchleins lesen, in dem Jack Schwager Ray Dalio interviewt.
Im zweiten Teil geht es um die von Dalio fixierten Prinzipien, an die sich insbesondere seine Mitarbeiter zu halten haben. Sie können aber auch als Erfolgsprinzipien interpretiert werden. Für ein Asperger-Gehirn sind sie leicht einzusehen, für ein normales vermutlich nicht ganz so einfach umzusetzen. Wäre es anders, müsste sich Dalio nicht die Mühe machen, sie aufzuschreiben.
Im amerikanischen Original umfasst Dalios Werk mehr als 500 Seiten. Nun hat sich Allen Cheng die Mühe gemacht, diesen Wälzer zusammenzufassen. Eigentlich sollte das ein gutes Werk sein, dennoch habe ich Zweifel an seiner Wirkung. Wenn man das Original kennt, wird man merken, dass diese 75-seitige Zusammenfassung in Anstrichen und kurzen Bemerkungen keineswegs dieselbe Wirkung entfaltet wie das Original. Wer noch einige Tage warten kann, wird eine deutsche Übersetzung des Originals kaufen können. Wenn man sie gelesen hat, wird man vielleicht Chengs Zusammenfassung besser nutzen können. Sie liest sich einfach schlecht, weil sie im Gehirn keine Bilder oder Vorstellungen aufbaut, sondern abgehackt mit irgendwelchen kurzen Momenten aus Dalios Leben oder kurzen Empfehlungen zu bestimmten Themen auf einen losprasselt. So ungefähr muss es sich anfühlen, wenn man einen Film, den man noch nicht kennt in hoher Geschwindigkeit vor sich ablaufen sieht. Hat man sich gerade auf eine Szene zu konzentrieren versucht, kommt schon die nächste. Kennt man dagegen den Film, dann empfindet man einen Schnelldurchlauf anders, eben weil man bereits Bilder und Erinnerungen im Kopf hatte.
Als Ergänzung zum Original ist dieses Büchlein sicher nicht schlecht. Es ersetzt es aber auf keinen Fall. Und übrigens: Auch im Original fasst Dalio seine Prinzipien am Ende zusammen. Nach meiner Empfindung auch noch besser als in diesem Büchlein.
Dalio im Schnelldurchlauf – nur für Kenner nützlich