Eine äußerst positive Überraschung stellte das Buch der mir bis dato unbekannten Schriftstellerin Alyssa Deane dar (ihre einzige Veröffentlichung?), das per Zufall und auf antiquarischem Wege zu mir fand. Mich reizte das wunderschöne Cover (leider hier keine Abbildung möglich), das farbenprächtig eine romantische indische Idylle zeigt (Palast, Himmel in changierenden Rosa- und Gelbtönen, davor eine elegante Frauengestalt) und die romantische Stimmung vorgibt, die zunächst den Roman beherrscht, der sich in der zweiten Hälfte zu einem packenden Drama entwickelt.
Die selbstbewusst-toughe Engländerin Roxane besucht in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Vater, der sie und ihre inzwischen verstorbene Mutter 15 Jahre zuvor verlassen hatte. Bevor sie aber nach Delhi reist, wo er wohnt, sucht sie eine Gastfamilie in Kalkutta auf. Dort lernt sie auch den Colonel Collier Harrison kennen. Sofort ist Anziehung und schnell auch Liebe zwischen den beiden im Spiel, was Deane auf schönste gefühlvoll-sinnliche Weise beschreibt. Es knistert und prickelt, dass es eine wahre Freude ist. Eine herrlich romantische Geschichte, dachte ich zu diesem Zeitpunkt - deren einziges Problem die verheimlichte anderweitige Verlobung Colliers zu sein schien - die sich, wie man es aus Liebesromanen nun mal kennt, nach ein wenig Hin und Her bestimmt als Missverständnis herausstellen würde. So ist es auch, aber das spielt so gut wie keine Rolle mehr, denn ganz andere, dramatische Entwicklungen kommen auf das Paar zu: Collier steckt mittendrin im aufkeimenden Konflikt zwischen indischen Soldaten und ihren weißen, britischen Befehlshabern. Er ist als Doppelagent unterwegs und muss irgendwann untertauchen. Schließlich bricht der Aufstand offen aus und damit halten Gewalt und Chaos Einzug. Die historischen Gegebenheiten stellt Deane korrekt und kenntnisreich dar. Ich wurde durch den Roman angeregt, bezüglich des Indien-Aufstands von 1858 zu recherchieren und musste feststellen, dass die Autorin bis ins Detail die unübersichtliche Situation faktenreich geschildert hat - auch gelingt es Deane, aus der Romanze heraus ein pralles, gewaltiges Historiendrama zu entwickeln, einschließlich harter, schockierender Beschreibungen der Brutalität und Erbarmungslosigkeit. Auch wird der Konflikt und der umstrittene Status der Briten im kolonialen Indien sehr differenziert dargestellt: die Person Colliers sucht die Vermittlerrolle, indem sie Verständnis für die unwürdige Lage der Inder zeigt und sowohl den mörderischen Aufstand verurteilt als auch vorhersieht, dass die ebenso katastrophale Reaktion der Briten folgen wird.
Schicksalsschläge treffen Roxane hart: ihre indische Stiefmutter ist eines der ersten Opfer des Aufstands, auch ihr Vater, dem sie sich wieder angenähert hat, findet den gewaltsamen Tod, sein Anwesen wird zerstört. Sie erlebt Schreckliches und muss bis zuletzt um Collier bangen, aber zum Schluss findet die Geschichte zur Romantik zurück - und standesgemäß endet der Roman dann doch mit Heirat und Kind.
Liebesromane können Herz und Kopf gleichermaßen ansprechen, die Gefühlspalette kann zwischen Leidenschaft und Wut, Glück und Angst, Freude und Entsetzen alles enthalten, und ebenso müssen harte historische Fakten nicht die Verträumtheit verhindern - das alles beweist dieser äußerst gelungene Roman, der offenbar viel zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.