Cover des Buches Biographie des Hungers (ISBN: 9783257066975)
Rezension zu Biographie des Hungers von Amélie Nothomb

Rezension zu "Biographie des Hungers" von Amélie Nothomb

von Ein LovelyBooks-Nutzer vor 15 Jahren

Rezension

Ein LovelyBooks-Nutzervor 15 Jahren
Die japanische Berghexe Yamamba ist eine ungewöhnlich hässliche Frau. Ihr langes, goldweißes Haar umspielt wirr ein fratzenhaftes Gesicht, das sich in seiner Länge in einem zerschlissenen dreckverschmutzten Kimono verliert. Yamamba lebt in den Bergen und Wäldern. Dort wartet sie auf sich verirrende Reisende. Lauert ihnen auf. Sie kann ihr Äußeres verwandeln, wird bei der Begegnung mit dem auserwählten Fremden zu einer wunderschönen Frau, einer geliebten Person des Verirrten oder behält ihre ursprüngliche Form und spielt die hilfebedürftige Alte. Dabei ist sie der bösen Hexe aus Hänsel und Gretel nicht unähnlich. Sie nimmt ihre Opfer mit zu sich nach Hause, mästet und verspeist diese oder führt sie auf einen hohen Berg, stürzt jene dann zu Tode und frisst sie auf. Die Sagen um die hässliche Alte jedoch sind so mannigfaltig wie die Märchen der Gebrüder Grimm. Die Yamamba ist eine sogenannte Yōkai der Japanischen Mythologie. Sie ist ein Monster. Ihre Haare gar soll sie zu Schlangen beleben können. „Es waren Märchen, nach denen ich hungerte und dürstete. In Japan hatte mir Nishio-san Yamamba, die Berghexe erzählt […].“ Nishio-san ist das Kindermädchen von Amélie Nothomb in Japan, wo die Autorin die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbrachte. Japan ist das Land ihrer Liebe, ist Heimat und ihr persönlicher Ursprung. Dabei beginnt dieser autobiographische Roman ganz anders. Der Autor eines Kataloges mit ozeanischer Kunst aus Vanuatu schickt Amélie Nothomb sein Werk mit folgender Widmung: „Für Amélie Nothomb / Auch wenn ich weiß, dass Ihnen das ganz egal ist. / Unterschrift / 11.7.2003“. Dass er damit nicht Unrecht hat, gesteht die Autorin ein, aber etwas daran fasziniert sie: In dem ganzen Katalog gibt es keine einzige Darstellung von vanuatuischen Lebensmitteln. Dabei schlussfolgert nun Frau Nothomb ganz kühl: „Kein Zweifel, diese Leute träumten nicht von Essen. Warum? Weil sie keinen Hunger hatten. Nie.“ Durch Zufall lernt sie auch einmal drei Abkömmlinge dieser ehemals auf „Neue Hebriden“ getauften Inselgruppe kennen. Und tatsächlich, sie haben keinen Hunger. „In Vanuatu gibt es überall Nahrung. Wir mussten nie etwas produzieren. […] Man geht im Wald spazieren, wo viel Geflügel haust, und ist quasi gezwungen, aus Freundlichkeit ein paar überzählige Eier aus den Nestern zu nehmen […]. Die Warzenschweinweibchen haben viel zu viel Milch […] und betteln geradezu darum, dass wir sie melken, um den Überschuss loszuwerden; sie stoßen schrille Schreie aus und hören erst damit auf, wenn man der Forderung nachkommt.“ Über fehlenden Hunger kann Frau Nothomb ihrerseits nicht klagen. Sie spürt ihn in allen Lebensbereichen und sieht ihn als den grundlegendsten Antrieb ihres Daseins an. Amélie Nothomb verspürt dabei Hunger in seiner vielgestaltigsten Weise; Hunger nach Süßigkeiten, Alkohol, Liebe, Büchern, Japan. Ein Hunger, der sowohl Sehnsucht, Unerfülltheit, Abneigung und Hass in sich birgt. Und dennoch ist es dieser allumgreifende Hunger, nach dem sie giert. „Hunger ist das Beste, was es gibt“, sagt die Autorin. Dieses Buch ist in der Tat eine autobiographische Revue der Jahre ihrer Kindheit und Jugend. Dabei kann man wohl nicht verschweigen, dass alle ihre bisherigen Veröffentlichungen durch biographische Ereignisse und Momente geprägt sind. Doch hier verfolgt man die Autorin durch die geographischen Stationen ihres jungen Lebens: Japan, China, USA, Bangladesch, Burma und Belgien. Und dabei schildert sie das Leben in den verschiedenen Städten und Ländern in einem unaufhörlichen Selbstbezug. Als DIE Selbsterfahrung per se. Die Biographie des Hungers erscheint in Deutschland erst 5 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich bei Albin Michel. Die Frage nach dem Warum auf verlegerischer Seite bleibt diesbezüglich offen. Lesenswert ist das Buch allemal. Und ganz typisch. Wenn auch etwa nach der Hälfte der insgesamt 207 flotten Seiten der Ton der Autorin ein wenig besserwisserisch und überheblich daherkommt. Die trockenen Wendungen, ironischen Betrachtungen und wunderbar metaphorischen Äußerungen lassen den wohlwollenden Rezipienten jedoch über solche Sätze hinweglesen. Der Kulturredakteur Martin Ebel bezeichnete die Welt von Amélie Nothomb einmal als „eine merkwürdige, makabre, manchmal morbide Welt, in der Liebe nicht ohne Hass vorkommt, Verehrung nicht ohne Demütigung, Sehnsucht nicht erträglich ist ohne ihre Abtötung.“ Damit trifft er den Nagel genau auf den Kopf, auch in der jetzigen deutschen Neuerscheinung findet sich dieses Besondere wieder. Am 17. September 2007 bestätigte Amélie Nothomb in einem Interview mit France 2 der Jounalistin, dass sie - ihre bis dato 16 Veröffentlichungen in Frankreich eingeschlossen - noch 62 Manuskripte in der Schublade hat. Amélie Nothomb schreibt etwa ein Jahr lang ohne Pause, im Winter liest sie sich die entstandenen Texte nochmalig durch, entscheidet sich für eines dieser Manuskripte bzw. eine daraus entspringende Form der Veröffentlichung. All ihre Manuskripte bewahrt sie in Schuhkartons auf. Auch im vorliegenden Buch erwähnt sie, dass sie mit 21 Jahren begann, jeden Tag mindestens vier Stunden intensiv zu schreiben. So sei es natürlich normal, dass man eine derartige Fülle an Material besitze, betont die Autorin. Dies alles zu veröffentlich sei jedoch ‚hors de question‘. Man darf gespannt sein, was die Leserschaft dennoch in Zukunft zu lesen bekommen können wird. Fazit: Manchmal wirkt die Story dahin gerotzt, vor allem rotzfrech, ja überheblich. Dennoch lässt einen die Schreibe und das, was die Autorin zu sagen hat, nicht mehr los. Sie hat viel zu erzählen, Amélie Nothomb, und bricht dabei gut und gerne die Grenzen des guten Geschmacks. Man erquickt sich an ihrer ambivalenten Welt, diesen schlauen Gedanken und einigen Metaphern und Wendungen für die man sich höchstpersönlich bei der Übersetzerin Brigitte Große bedanken möchte. Gut, dass auch dieses Buch nach so langer Zeit den Weg auf den deutschen Markt gefunden hat.
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