Cover des Buches In guten Kreisen (ISBN: 9783866481923)
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Rezension zu In guten Kreisen von Amber Dermont

Jasons großes A

von BluevanMeer vor 9 Jahren

Rezension

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BluevanMeervor 9 Jahren


Ich will nichts mit einem Schiff zu tun haben, das nicht schnell segelt, denn ich gedenke mich in Gefahr zu begeben. (Captain John Paul Jones)

Für Jason Prosper beginnt das letzte Collegejahr, es ist auch seine letzte Chance. Jason wächst in den 1980er Jahren in New York auf, in den "guten Kreisen" der weißen Oberschicht. Penthousewohnungen in Manhattan gehören so selbstverständlich zum exquisiten Lifestyle, wie Sommerhäuser in Maine und Segelclubs. Segeln ist Jasons Leidenschaft. Zusammen mit seinem Trainingspartner Cal bestreitet er sehr erfolgreich Wettkämpfe. Das Duo ist unschlagbar und Jason und Cal harmonieren nicht nur auf dem Wasser miteinander.


Im Sommer segelten wir ohne Konkurrenzgedanken. Lasen, ohne uns Sorgen um Prüfungen zu machen. Wir tranken Johnnie Walker Red und rauchten Pall Mall. Kurt Vonnegut rauchte Pall Mall, und wir mochten ihn. Morgens füllten wir eine tiefe antike Kühltasche mit Roastbeef-Sandwiches, hart gekochten Eiern und Alkohol, den wir aus den Vorräten unserer Väter gestohlen hatten. Wir segelten den ganzen Tag und übernachteten draußen auf dem Boot meiner Familie. (S.25)

Als Cal sich im ersten Collegejahr das Leben nimmt, steht Jason vor dem Nichts. Wie ein steuerloses Boot treibt er manövrierunfähig auf dem Wasser, ist in sämtlichen Bereichen des Lebens orientierunglos und das Navigieren nach den Sternen hat er noch nicht gelernt.


Ich hatte gehört, dass Amputierte Phantomschmerzen empfanden. Zuckungen hatten und Krämpfe, ihr Körper war noch nicht davon überzeugt, dass die Gliedmaßen entfernt waren, und sie krümmen immer noch Ellenbogen, die nicht mehr da sind, und strecken imaginäre Knie. Ich fühlte mich eher wie ein abgetrenntes Glied, das sich nach dem fehlenden Körper sehnte. Ich suchte dringend etwas, woran ich mich klammern konnte. Jahrelang war ich damit zufrieden gewesen, mein Leben einfach als Anhängsel Cals zu leben. (S.24)

Seine Eltern schicken ihn auf eine neue Schule. Die Bellingham - Academy ist ein extrem teures Internat an der Atlantikküste, ursprünglich benannt nach der Familie Bellinghem, allerdings sieht die andere Schreibweise "im Briefkopf besser aus" (S.18). Die rich kids warten an dieser Schule darauf, dass ihnen endlich ein Abschluss in den Schoss fällt und wenn es nicht so richtig läuft, hilft Papa eben mit einer großzügigen Geldspende nach. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sich die Schule gerade um die "damaged goods", den fehlerhaften Nachwuchs der zahlungsfreudigen Eltern kümmert. Oder in Jasons Worten, der dieses Arrangement sehr kritisch sieht: die Schule steht "Dieben, Schlampen und Rauschgiftsüchtigen" (S.15) offen. Das Jason diese Manöver durchschaut, hebt ihn wohltuend von seinen neuen Mitschülern ab und macht ihn sehr sympathisch. Der Deal: den Schüler_innen eine möglichst sorgenfreie Zeit zu verschaffen. Gibt es Probleme, entfaltet der Dean einen riesengroßen Vorhang hinter dem sämtliche Schwierigkeiten verschwinden. Eine symptomatische Haltung für die Erwachsenen in Cals Milieu, die ihre Fähigkeit Verantwortung und Schuld an Dritte abzugeben, perfektioniert haben.


Kinder zu haben bedeutete für manche Eltern die vollständige Lossprechung von allen zukünftigen Sünden. Mein Vater gestattete sich niemals, unrecht zu haben. Die Schuld an verlegten Scheren, steigenden Zinsen und Eiswürfelbehältern ohne Eiswürfel gab er unweigerlich Riegel und mir. Dad betrog unsere Mom, und dann sagte er ihr, es sei ihre Schuld, dass er sie betrogen habe. (S.12)

Jason versucht in der neuen Gemeinschaft, die aus vielen kaputten Gestalten besteht, Fuß zu fassen. Und das gelingt ihm erstaunlich gut, es gibt eine neue Segelmannschaft und er bekommt einen neuen Segelpartner. Race, Tazewell und Cliffo nehmen Jason in ihren Kreisen auf, doch Jason ist besonders an der Außenseiterin Aidan interessiert. Doch als Aidan bei einem schweren Orkan ums Leben kommt und die Schule ihren Todesfall als "Selbstmord" ausgibt, wird Jason misstrauisch und beginnt seine neuen Freunde ganz genau unter die Lupe zu nehmen.

In guten Kreisen ist ein faszinierendes Debüt, gehaltvoll, gelungen. Die Washington Post sieht einen "entfernten Cousin von Der große Gatsby" und ich kann nur zustimmen. Ein Roman, den ich innerhalb weniger Tage durchgelesen habe und den ich euch nur besten Gewissens ans Herz legen kann. Vor dem Hintergrund des Börsencrashs von 1987 wird ein gesellschaftliches Milieu entworfen, das sich durch Dekadenz und Arroganz auszeichnet und das sehr danach bestrebt ist, die eigenen Kreise so eng wie möglich zu ziehen, koste es was es wolle. Scheidungen werden vertuscht, Vermögen verloren und mehr Schein als Sein ist die Devise.

Die Gefahr für diejenigen, die nicht zum Kreis der Erwählten gehören, wird jederzeit deutlich und zeigt sich schon in harmlos wirkenden Hänseleien. Eine Zeit lang war Aidan für die anderen Schüler "Hester Prynn", eine Außenseiterin, der allerdings anders als im Scharlachroten Buchstaben (1850) von Nathaniel Hawthorn - in dem Roman wird eine Ehebrecherin mit einem roten A auf ihrer Kleidung markiert - keine Gerechtigkeit widerfährt. A wie anders, a wie Adultery (Ehebruch) oder Adam's Fall (Sündenfall) oder Angel - die Rolle des "A" wird von Hawthorn nicht ausgeführt. A wie Aidan. Die Bedeutung des A bleibt ungeklärt, genau wie die Details zu Aidans Tod. Das große A fügt sich ein in den Motivkomplex der Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung, der von Dermont geschickt entfaltet wird und der neben den immer wiederkehrenden, faszinierenden Naturbeschreibungen steht.

Erst am Schluss gelingt es Jason sich seiner eigenen Schuld zu stellen und auch die Lesenden erfahren, unter welchen Umständen sich Cal das Leben nahm. Das ist nicht einfach zu lesen, hebt Jason allerdings als Charakter deutlich von seinen Mitschüler_innen ab. Er kommt nicht davon. Der Text stellt ihn und seine Taten bloß, er stellt sich, indem er uns die Wahrheit berichtet. Jason akzeptiert sein großes "A":


Was uns trennte und mich von der Company unterschied, war vielleicht der Umstand, dass ich nicht versuchte, mit meinem Verbrechen davonzukommen. (S.438)

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