Rezension zu "Sehnsucht" von Amos Oz
Jerusalem, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Auch bei den Pionieren der zionistischen Bewegung, die schon seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren im Land leben, hat sich die anfängliche Euphorie abgeschliffen, die Erkenntnis, dass auch das erträumte jüdische Gemeinwesen nicht perfekt sein kann, bleibt unübersehbar. Die unmittelbare und elementare Bedrohung durch die Nazis ist vorüber, aber fast jede Familie hat Angehörige aus Europa im Holocaust verloren. Das dämpft die Stimmung und die freudige Erwartung auf den jüdischen Staat, der in den Startlöchern steht. Der Staat Israel wird einhergehen mit dem Abzug der Briten. Einerseits können es die Menschen kaum erwarten, die verhasste Besatzungsmacht endlich los zu sein, andererseits weiß jeder, der ein offenes Auge hat, dass mit dem Abzug der moderierenden englischen Streitkräfte das Pulverfass hochgehen wird und ein Krieg mit den Arabern unvermeidlich scheint.
In diese Gemengelage führt uns Amos Oz mit seinen Erzählungen. In der ersten treffen wir den Tierarzt Hans Kipnis mit seiner unglücklichen Frau und dem aufgeweckten altklugen Söhnchen Hillel. Kipnis hat im Theater einer hochstehenden Engländerin, die einen Schwächeanfall erlitten hatte, das Leben gerettet und zum Dank wird er zur Feier für den Jahrestag des Sieges über die Nazis in den Palast des Hochkommissars eingeladen - eine fremde Welt für ihn, der sich den Abendanzug für diese Gelegenheit extra leihen musste. Von der Feier wird er allein zurückkommen, seine Frau brennt auf dem Fest mit dem ‚Helden von Malta‘ durch, einem hochdekorierten britischen Offizier und notorischem Frauenhelden, der das Familienvermögen durch Zahlungen an gehörnte Ehemänner verpulvert. In der zweiten Geschichte bleiben wir im selben Vorort von Jerusalem, in dem auch Amos Oz selbst aufgewachsen ist. Diesmal ist Uri der Icherzähler, ein Knabe an der Schwelle zur Pubertät, Sohn eines Druckereibesitzers - und wild entschlossen, der jüdischen Untergrundarmee im Kampf beizustehen. Er entwirft Schlachtpläne, um die Berge rund um die Stadt zu erobern und verbringt seine Tage in der Radiowerkstatt von Efraim, der dem Untergrund angehören soll, immer wieder für Tage verschwindet und per Kurzwelle Todesstrahlen aufzufangen versucht, die im Krieg eine Waffe sein könnten. Realität und Traum verschwimmen in den letzten heißen Augusttagen und der geheimnisvolle Herr Levi, der im Untergrund ein hohes Tier zu sein scheint, wird in der Höhle versteckt, deren Zugang unter der Druckerpresse verborgen ist. Aber am nächsten Tag will keiner der Erwachsenen etwas von der Existenz des geheimnisvollen Gastes wissen. Herrn Levi hat es nie gegeben. Die dritte Erzählung besteht aus den Briefen, die der todkranke Arzt Dr. Nußbaum, zuständig für die Überwachung der Trinkwasserqualität in der Gegend, an seine ehemalige Geliebte Mine schreibt. Die ist davon, erst in einen Kibbuz, aber wahrscheinlich hat sie genug von Israel und schon auf dem Weg zum Dampfer nach New York. Nußbaum schildert die Beobachtungen der Spätsommerabende auf dem Balkon und schreibt seine Lebensgeschichte auf, die ihn, den in Wien frisch approbierten Arzt, nach Palästina geführt hat, wo er als typischer „Jecke“, etwas naiver und treudoofer Jude aus Deutschland oder Österreich, zum Spottobjekt wird.
Mit starken Bildern und lebendiger Zeichnung erweckt Amos Oz diese eigentümliche kleine Welt von Kerem Avraham zum Leben. Er, der engagierte Friedensaktivist und Mann des Ausgleichs, verortet sich hier fest in den jüdischen Reihen. Die Geschichten, die Mitte der 1970-er geschrieben wurden, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg, zeugen von der Liebe des Autors zu dieser Stadt, zu dieser Landschaft und zu den Menschen, auch wenn er sie immer skeptisch und spöttisch beschreiben wird. Man muss die Eigentümlichkeiten von Ort und Zeit der Handlung ebenso betrachten, wie die der Entstehung, um nachzuempfinden, was uns Oz erzählen will. Wenn man sich darauf einlässt, kann man eintauchen und wird reich belohnt.
Der Text ist gut und gerne vier Sterne wert, ich habe einen abgezogen für die äußere Qualität des Buches. Bei Suhrkamp erstellt man E-Books alter Ausgaben, indem man den gedruckten Text auf den Scanner legt. Dabei unterlaufen dem Scan unweigerlich Fehler: Ein c wird zum e, ein l zum i oder gar zum !. Auf jeder dritten oder vierten Seite tritt das auf, es stört den Lesefluss und es ärgert den Käufer immens. Man hätte es leicht heilen können, indem man einmal die studentische Hilfskraft über den Text hätte schauen lassen, aber nein, das kostet ja Geld, und es geht auch ohne. Für diese Schlamperei aber den vollen Preis für ein verlagsfeines Buch zu nehmen (immerhin 16 Euro), das ist in der Tat eine bodenlose Frechheit!