Sein schlimmster Alptraum war Wirklichkeit geworden. (Seite 138)
Handle gerecht, sei barmherzig. (Seite 273)
Mit den beiden Zitaten ist ein weiter Bogen gespannt, eine Richtung vorgeben, ein schmerzhafter Weg vorgezeichnet. Ein Weg, an dessen Ende vieles, das meiste, anders ist als zu Beginn zu erhoffen oder zu erwarten war. Dabei wird schon im Prolog der wohl schlimmste Alptraum vieler Menschen zur brutalen Wirklichkeit: ein betrunkener Autofahrer löscht Gracies Famile aus. Ihr Mann und die zwei Kinder - tot. Der Täter begeht Fahrerflucht und wird nie gefunden.
Zwei Jahre später ist Gracie als Lehrerin in einer Grundschule tätig und lernt Steven Kessler kennen, einen alleinerziehenden Vater, dessen Sohn James in ihre Klasse kommt. Steven ist FBI-Agent und zuständig für vermißte Kinder. Gracie wie auch Steven tragen tiefe innere Wunden, deren sie sich teilweise nicht bewußt sind, mit sich herum, die einer besseren Zukunft - alleine wie gemeinsam im Wege stehen.
Gracie sucht noch immer nach dem Todesfahrer, ohne zu ahnen, wie (räumlich) nahe sie diesem ist. Sehr bald wird klar, wer der Mann ist, der damals am Steuer saß und daß er alles tun würde, um die Gefahr, die Gracie für ihn darstellt, zu eliminieren. Steven hingegen erlebt Freud und Leid seines Berufes. Nicht alle Kinder werden lebend wiedergefunden. Als schließlich die Tochter des britischen Botschafters entführt wird, beginnt ein Wettlauf gegen diplomatische Rücksichtnahmen und vor allem gegen die Zeit. Weder Gracie noch Steven ahnen, wie sehr Entführung wie damalige Todesfahrt miteinander verwoben sind.
Steven wurde kurz nach der Geburt seines Sohnes von seiner Frau Angela verlassen. Sie ist Alkoholikerin und zog dem Babyversorgen die Scheidung und Heirat mit einem Professor vor. Steven hatte in der Folge seinen Glauben weitgehend verloren. Jetzt ist Angela wieder da und fordert das alleinige Sorgerecht für den Sohn.
Neben dieser äußeren Handlung gibt es, wenn man so will, noch die innere, den Weg, den die beiden Protagonisten zu ihrer Heilung zurücklegen müssen. Dazu müssen sie sich ihrer Verwundungen erst einmal bewußt werden und diese akzeptieren.
Was diesen Roman von fast allen, die ich bisher gelesen habe, unterscheidet ist, daß Gracie wie auch Steven in einem sehr christlich geprägten Umfeld leben und handeln. Beten, das Sprechen und auch das Hadern mit Gott sind einfach Teil des ganz normalen Lebens und so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Dies sollte man wissen und akzeptieren. Eigentlich, muß ich zugeben, hat es mir sehr gut gefallen, daß endlich einmal keine religionslosen Protagonisten auftauchen, sondern Menschen, die in ganz normalen Berufen wie Lehrerin oder Polizist tätig sind und dennoch einen Glauben haben, an dem sie sich ausrichten. Oder das zumindest versuchen.
Stilistisch ist das Buch in eher nüchterner Sprache geschrieben. Daran mußte ich mich erst etwas gewöhnen, weil die beiden zuvor gelesenen (Lynn Austin und Marc Levy) so ganz anders waren. Teilweise wird dadurch eine gewisse Distanz zu den beschriebenen Ereignissen erzeugt, was aber nicht unbedingt verkehrt ist. Der Autorin kam mit Sicherheit auch ihre Ausbildung auf einer Polizeischule zugute, denn die FBI-Tätigkeiten schienen mir recht zutreffend beschrieben zu sein. Trotz teilweise recht knappen Beschreibungen sah ich alles recht lebendig vor meinem inneren Auge, wie in einem Film.
Über weite Strecken des Buches ließ mich das ablaufende Kopfkino fühlen, als ob ich einen amerikanischen Krimi oder Thriller ansehe. Bis ich, ohne Vorwarnung, bemerkte, daß das Buch durchaus viel mit dem „normalen“ Leben, mit mir, mit meinem Leben zu tun hat; mehr als mir lieb ist. Weshalb diese Rezi letztlich auch anders ausfällt, als eigentlich geplant. Mir ist beim Lesen unwillkürlich wieder „Die Gnade der Amish" eingefallen. „Vergebung bedeutet, dein Recht auf Vergeltung aufzugeben.“, so heißt es in jenem Buch an einer Stelle. Was in einem Sachbuch ein doch eher abstrakter Begriff war, den man so wundervoll von sich selbst fernhalten kann, wird in einem Roman plötzlich zur Anfrage an einen selbst, an die eigenen erlittenen Verletzungen und dem Umgang damit, die Verarbeitung derselben. Daß genau dieses Verarbeiten ein Thema des Buches ist, kann man auf der Website der Autorin zur Buchreihe nachlesen.
Wenn die Gnade der Amish ein erster sachlicher Hinweis auf den Umgang mit, die Heilung von Leid war, so habe ich hier die praktische Ausführung für das „ganz normale Leben“ vorgefunden. Jeder muß letztlich selbst entscheiden, ob er ein solches Thema an sich heranlassen will. Für mich war es das richtige Buch zur richtigen Zeit.
Kurzfassung
Gracie und Steven sind zwei Menschen mit traumatischen Erfahrungen, die sich begegnen und trotz - oder wegen - der Umstände erst zueinander finden müssen. Eingebettet in eine Handlung, die mir über weite Strecken wie ein amerikanischer Polizeithriller vorkam. Oder noch kürzer:
Ein (für mich) spannendes Buch mit erstaunlichem Tiefgang.