Rezension zu "So nah den glücklichen Stunden" von Anaïs Barbeau-Lavalette
"Du warst eine Insel, doch jetzt spürst Du, dass Du vielleicht zu einem Land gehörst." (Seite 88)
Mousse besucht im Winter 2004, begleitet von ihrer erwachsenen Tochter Anaïs, der Autorin, ihre zurückgezogen lebende Mutter Suzanne in Ottawa. Sie haben seit Jahren keinen Kontakt zueinander gehabt. Sie ist eine schmerzende, nie heilende Leerstelle in Mousse‘ Leben, das erfüllt ist von dem Verlust der mütterlichen Liebe, dem Nie-Festhalten-Können dieser ihr so rätselhaft abwesenden und sie abweisenden Frau.
Und so ist es Anaïs, die das Leben ihrer kunstschaffenden Großmutter dechiffriert, es nachzeichnet, einem Versuchsaufbau gleich. Sie schreibt ihrer Großmutter ein Leben, formt deren Sehnsucht, begreift diesen unbezwingbaren Drang, die Künstlerin in sich zu leben, und formuliert in absoluter Schärfe die entsetzliche Tat, die ihre Großmutter zu einer vor sich selbst Fliehenden werden lässt, einer Frau, die erst am Ende ihres Lebens eine Form von Ruhepol in sich findet und sich selbst verzeiht.
In einer dicht gewobenen, drängenden Sprache erzählt Anaïs Barbeau-Lavalette von Volten, die wir aus Liebe, Gier, Sehnsucht oder Drang schlagen, von bestimmenden Wendepunkten und nicht ergriffenen Abzweigen auf dem Lebensweg, vom bittersten aller Verluste und von Entscheidungen, die aus Sinnsuche, aber zu einem unermesslichen Preis getroffen wurden.
Sie adressiert diese Fiktion einer Biographie an ihre Großmutter fast im Imperativ. So, als wolle sie der Bestimmung, die deren unerbittliches Handeln über ihr und das Leben ihrer Mutter Mousse hatte und hat, ein Gegengewicht setzen, das ihr ein Verstehen ermöglicht.
Und so schält sich beim Lesen die Lebensgeschichte einer Frau heraus, die unbestimmt lebte und der die prägenden Auswirkungen dieser Freiheit sehr wohl bewusst waren. Ist also Selbstbestimmung nur möglich, wenn wir dafür einen schmerzvollen Tribut zahlen?
Ein wahrer Pageturner und eine wirkliche Entdeckung!