Cover des Buches Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust (ISBN: 9783862822003)
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Rezension zu Obiad - Mehr als nur Mittagessen. Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust von André Biakowski

OBIAD - Ein Buch öffnet das Fenster des Verstehens

von Mr. Rail vor 11 Jahren

Kurzmeinung: Essen auf Rädern für überlebende Opfer des Holocaust - gewagte Begegnungen auf menschlich bewegender Augenhöhe... brillant erzählt!

Rezension

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Mr. Railvor 11 Jahren

„OBIAD“ – Nur ein einziges Wort reicht dem 29jährigen Mann aus, um Türen zu öffnen. Mehr braucht es nicht. Wirklich nicht. Aus der Wechselsprechanlage erklingt lediglich ein gehauchtes „TAK“ als Erwiderung und der Weg ist frei. Anfänglich kennt der Mann die Bedeutung des Wortes nicht, mit dem sich ihm – ausgerechnet ihm – eine verborgene Welt öffnet. Er weiß nicht, was ihn genau erwartet – er weiß nur eines: Er muss diesen Weg gehen! Und dies nicht nur für sich selbst.

Hinter dem kleinen Wort „OBIAD“ verbirgt sich nichts weiter als der Begriff „Mittagessen“… und doch ist dieser geheimnisvolle Code der Schlüssel zur Tür eines besonderen Kapitels deutsch-polnischer Geschichte. „OBIAD“ gewährt Zutritt zu Menschen, die aufgrund ihres Glaubens Opfer der nationalsozialistischen Diktatur waren – jüdische Menschen, für die das Wort Auschwitz mehr ist als nur ein Ort – mehr als ein Begriff und mehr als eine Gedenkstätte.

Sie waren dort. Opfer des Holocaust – Überlebende zwar, aber gezeichnet für ihr Leben. Überlebende! Und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht nur den Holocaust haben sie überlebt – nicht nur den eigenen programmierten Tod haben sie überlebt – auch Freunde, Bekannte und ihre eigenen Familien haben sie überlebt. Und nun öffnen sie ihre Türen – ausgerechnet ihm: einem 29jährigen Deutschen, der sich entschieden hat ein Jahr lang nicht nur mit den Opfern zu leben, sondern auf besondere Weise für sie zu leben.

Andre Biakowski – Absolvent einer Kunstakademie, Werbekaufmann und Marketingspezialist – erzählt in seinem ersten Buch:

OBIAD – Mehr als nur ein Mittagessen – Mein Jahr in Polen mit Überlebenden des Holocaust

von seiner einjährigen beruflichen Auszeit und seinen Erfahrungen als freiwilliger Helfer des Maximilian-Kolbe-Werks. Ein Jahr lang lebte er in Lodz, betreute Überlebende unterschiedlicher Konzentrationslager und Ghettos, brachte ihnen das tägliche Mittagessen nach Hause und leistete seinen ganz eigenen Beitrag auf dem Weg zur Versöhnung mit den Menschen, die ihm auf diesem Weg begegneten.

Man kann viel über die damalige Zeit schreiben, man kann seinen Lebensweg mit Lippenbekenntnissen und großen Gesten pflastern und sich darauf verlassen, dass die große Politik in ihren Bestrebungen um Versöhnung und Verständigung die richtigen Zeichen setzt. Aber letztlich ist es der Königsweg, den Andre Biakowski beschritten hat. Die finale Stufe in der Evolution der Versöhnung mit den Überlebenden von einst. Der Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos; die große Rede von Bundespräsident Roman Herzog anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes oder die Umarmung zwischen Helmut Kohl und dem damaligen polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki – all diese großen diplomatischen Gesten wären inhaltsleer, wenn sie nicht von Menschen mit Leben gefüllt würden.

Andre Biakowski vollendet diese tiefe politische Gestik durch gelebte Zwischenmenschlichkeit. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass die große Politik ihm die Türen geöffnet hat – er realisiert aber auch, dass es Menschen geben muss, die sich durch diese offenen Türen wagen. „OBIAD“ – ein kleines Wort zeigt, dass der Samen der Versöhnung inzwischen zu einem weiten Feld geworden ist, denn wie der Autor des Buches selbst, so leisten viele junge Menschen ihren Dienst im Sinne des Verstehens und der Verständigung. Sie tragen alle dazu bei, dass sich Opfer nicht vergessen fühlen und Mut schöpfen in der Hoffnung, dass nicht alles vergebens war.

Andre Biakowski stellt nicht sich in den Mittelpunkt seines Buches.Er gewährt diesen Platz abseits jeglicher Eitelkeit den Menschen, denen er begegnet. Er selbst empfindet den Überlebenden gegenüber keine Schuld – er empfindet eine aus der Geschichte abgeleitete Verantwortung und dieses Selbstbild trägt ihn zu Menschen, die von ihm keine Entschuldigung, sondern nur Verständnis erwarten.

„Sie wissen, ich bin zu jung, um Schuldgefühle zu tragen, und schweigen mit mir in ein gegenseitiges Verstehen hinein.“

Diese Begegnungen sind nicht leicht. Und doch schlagen sie eine Brücke, die bei offenen Wunden beginnt und bei schlecht verheilten Narben endet – aber die Brücke trägt, da man sich mit höchstem menschlichem Respekt begegnet.

Es sind absolut keine elitären Begegnungen auf rein theoretischer DiskussionsbasisNEIN – es sind die Augenblicke des Zuhörens oder Schweigens – es sind die Momente der Handreichung, die hier eine Verbindung schaffen. Das Essen auf Rädern wird zum letzten und wichtigsten Brückenglied in dieser Kette. „OBIAD – mehr als nur ein Mittagessen“ – diesen Titel trägt das Buch mit bestem Recht.

Es lohnt sich, Andre Biakowski lesend zu folgen. Atemlos zu schweigen, wenn er schweigt und zu lauschen, wenn er mit immer besser werdendem Polnisch versucht, auch die größte Sprachbarriere zu meistern. Er führt uns zu den wohl letzten Zeitzeugen eines Massenmordes und hält uns, ebenso wie jene Überlebenden, ohne erhobenen Zeigefinger vor Augen wie wichtig es ist, sich gegenüber zu sitzen und Verständnis zu zeigen. Sich gegenseitig die Hand zu reichen und damit die Narben der Geschichte ein wenig zu glätten.

„Ich trage die Botschaft von vielen Begegnungen und Gesprächen in mir. Diese Menschen dürfen nicht vergessen werden. Sie zu vergessen, bedeutet Geschichte zu relativieren.“

„OBIAD“ ist ein wichtiges Buch. Es vermittelt vielschichtige Gedanken und zeigt, dass Versöhnung nicht auf Vergebung oder Schuld beruht. OBIAD füllt eine Lücke im gegenseitigen Verständnis und ist mehr als ein Fenster in die Vergangenheit. Der Blick zurück ermöglicht den Blick in die Zukunft und es ist nicht schwer, das Fenster auch für sich selbst ein Stück weit zu öffnen.

Wie sehr dieses Jahr in Polen Andre Biakowski selbst verändert hatzeigt sein beeindruckendes Nachwort. Zwei Jahre später kehrt er nach Polen zurück. Er kehrt in ein Stück Heimat zurück, das er sich erlebt hat.

Lesenswert – lebenswert.

Illustrierte Rezension: Literatwo

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