André Kubiczek kannte ich bisher nicht, dabei hat er schon viele Bücher geschrieben, die sich im Allgemeinen autofiktional mit dem Übergang zum erwachsen werden in der ehemaligen DDR auseinandersetzt. Laut Wikipedia gehört er zu den „Kinder(n) der letzten echten DDR-Generation“, die sich in ihren autobiographisch geprägten Werken von der „uneigentlichen Sprache“ einer „indoktrinierten Öffentlichkeit“ befreiten.“
Das merkt man auch in seinem neuesten Werk.
Wir begegnen dem Jungen André, im Buch allgemein als “er“ bezeichnet, in den Jahren 75-87, wobei dieser Zeitstrahl nicht linear erzählt wird. Der sensible, eher schweigsame Junge, wächst als Sohn akademischer Eltern in Potsdam auf. Seine Mutter ist Laotin und aus Liebe hat sie ihr privilegiertes Leben in einem offeneren Start als der DDR aufgegeben. Ihr blieb kein anderer Weg als die Einbürgerung und den Bruch mit ihrer Familie. Doch schon bevor sie Andrés Vater, einen Reserveoffizier, heiratet kommen ihr erste Zweifel, ob diese Entscheidung richtig für sie ist. Sie bekommt zwei Söhne, der zweite verunglückt in jungen Jahren was Auswirkungen auf seine geistige Entwicklung genommen hat.
André sieht sich in einer verantwortungsvollen Position, er kümmert sich um den jüngeren Bruder und später auch um Teo, die schwer erkrankt. Dabei bleibt er zum Teil das neugierige Kind, der aufmüpfige pubertierende Jugendliche, der anerkannt werden möchte und die schwierige Familienkonstellation möglichst im verborgenen halten will. Er versucht das außen und innen stark zu trennen. Zu den asiatischen Wurzeln seiner Mutter hat er nur wenig Zugang, aber sein Aussehen macht sie ihm bei jedem Blick in den Spiegel allgegenwärtig. Je älter er wird, desto mehr freute er sich auf den Tag, an dem er aus dieser Familie ausbrechen kann, und ich kann ihn sogar sehr gut verstehen. Wir begleiten André bis ins Alter von ungefähr 18 und ich lese mit großer Anteilnahme seine Gedanken zu sich und seiner Familie.
Die Bürde, die er trägt wird ihm nicht offensichtlich von den Eltern auferlegt, aber unterschwellig weiß man, dass die Übernahme von Last eingefordert wird. Seine Mutter verschenkt, ohne ihn zu fragen, seine Sachen (Spielzeuge, Kleidung und anderes) an helfende Hände aus Dankbarkeit. Auch existenzielle Dinge wie zum Beispiel einen Wohnungstausch zieht sie noch kurz vor ihrem Tod ohne Mann und Kinder zu fragen, durch, obwohl sie weiß, dass sie alleine gar nicht in der Lage dazu ist. Aber ihre Männer schweigen und tun, was sie möchte. Wohl eine einzige, letzte Möglichkeit, Kontrolle und Macht in ihren Händen zu lassen. Ein besonderes Band zwischen Mutter und Sohn ist die Musik, die vorzugsweise auf Kassetten aufgenommen wird und das Familienleben mit Melodien versieht.
Im letzten Drittel des Buches reisen wir zunehmend rückwärts in die Zeit, in der Teo und Werner sich kennen gelernt haben. Der Teil konnte mich erzählerisch nicht ganz so mitnehmen wie auf den ersten 250 Seiten, so vieles war eigentlich schon klar und wiederholte sich hier. Es war trotzdem interessant, in die Gedanken der Mutter einzutauchen, die der Autor ihr in den Mund beziehungsweise in den Kopf gelegt hat.
Sehr atmosphärisch finde ich die Darstellung des Alltagslebens in der ehemaligen DDR. Ich glaube bisher hat es noch kein Buch geschafft, mir das so prosaisch und selbstverständlich wiederzugeben. Deswegen wage ich mal die Empfehlung auch die anderen Werke Kubiczeks zu lesen, wenn man in dieses Stück Geschichte reisen möchte. Ich möchte das nach und nach nach gerne tun.
Der Vater und der jüngere Bruder werden nur schemenhaft gezeichnet, man kann sie sich aber trotzdem sehr gut vorstellen. Sein jüngeres Ich hingegen hat der Autor sehr sensibel dargestellt, und bei mir großes Mitgefühl für seine schwierige Kindheit geweckt. Da er im gleichen Jahr geboren ist wie ich, konnte ich mir vieles, trotz der unterschiedlichen Rahmenbedingungen unserer Teenie Zeit, sehr gut vorstellen. Und ich glaube, er wäre voll mein Typ gewesen 😉. Auch die Mutter kam mir beim Lesen sehr nah, und wenn ich auch nicht alles richtig finde, was sie gemacht hat, so habe ich doch Verständnis für Ihre Entwicklung. Wenn man sein Leben in weiten Teilen mit großen Schmerzen und in Immobilität verbringen muss, in einem Land, in dem man nicht wirklich zu Hause ist, in dem man eingesperrt ist, in dem man den Geschmack der Heimat und die Menschen, mit denen man aufgewachsen ist vermisst, dann hat man auch das Recht merkwürdig zu werden. Dass die Konsequenz ist, dass eine schwere über der Kindheit ihrer Söhne liegt, darüber hätte sie sich klar sein müssen, aber ich glaube Fatalismus war diesbezüglich ihre Devise.
Eine wunderbar leichte Schreibweise hat mich durch das ganze Buch getragen und es zu einem wahren Page Turner gemacht.
Große Leseempfehlung!