Rezension zu "Wir, Kinder in Auschwitz" von Andra Bucci
Zwei alles überstrahlende Mädchen. Leicht vergilbt, das Foto. Doch die unschuldige Freude ist fühlbar. Und dann dieses unheilvolle Wort: Auschwitz! So allgegenwärtig das Lächeln im Gesicht des Betrachters eben noch war, so schnell verfliegt es wieder. Diese beiden Mädchen, die noch nichts von der Welt wussten, gerade begannen das Leben zu erforschen und dieser Höllenort – wie geht das zusammen? In Zahlen: Zweihundertdreißigtausend Kinder waren im deutschen Konzentrationslager Auschwitz in eigens für errichteten Baracken untergebracht. Fünfzig überlebten die schlimmste Widerwärtigkeit, die „Menschen“ Menschen antun können. Das sind Null Komma Null zwei Prozent. Unvorstellbar! Wenn man durch die eigenen vier Wände streift und grob überschlägt wie viel 0,02% von dem sind, was da steht, hat man nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von dem, was Auschwitz bedeutete.
Für Tati und Andra ist es das Ende ihrer Kindheit als Ende März 1944 die Stiefel knallen, die Waggontüren ins Schloss fallen und Fiume, das heutige Rijeka – dort wo zwanzig Jahre zuvor die erste faschistische Republik unter der Führung des Phantasten Gabriel D’Annunzio gegründet wurde – ein letztes Mal als Ort der Kindheit zu sehen war. Zusammen mit der Oma, der Mutter, zwei Tanten, einem Onkel und ihrem geliebten Cousin Sergio werden sie nach Auschwitz gebracht. Dort stehen sie unter der Fuchtel, aber auch dem Schutz der so genannten Blockwärtin. Die hat sich angepasst und sucht ihren Vorteil, ist aber zu den beiden Mädchen immer zuvorkommend, soweit es die Situation zulässt. Sie ist es auch, die ihnen den Rat gibt sich niemals zu melden, wenn gefragt wird, wer die Eltern wieder sehen will. Denn das ist ein fieser Trick der Wachen Kinder zu selektieren. Sergio hält sich nicht an den Ratschlag – er meldet sich. Wird abgeführt. Später erfahren die Mädchen und die ganze Welt, was mit ihm geschah – nichts, was man auch nur annähernd seinem ärgsten Feind wünscht.
Tati und Andra überleben das reichliche Jahr Auschwitz. Was sie nichts wissen, die Mutter hatte sie immer im Blick. Wie? Dieses Geheimnis nimmt die Mutter mit ins Grab, das glücklicherweise nicht in Auschwitz liegt. Als die Befreier kommen, ist Prag die neue Heimstatt für die beiden Mädchen. Ein Heim, in dem sie wieder eine Nummer sind. Aber dieses Mal mangelt es nicht an Hoffnung. So richtig Kinder dürfen sie erst wieder sein als sie in England in Lingfield House landen. Hier werden Kinder aus den KZs wieder aufs Leben eingeschworen. Psychologische Betreuung und die Vermittlung von Werten und der eigenen Kultur stehen auf dem Tagesplan. Mittlerweile sprechen Tati und Andra kaum noch italienisch, sondern nur noch tschechisch und deutsch, ihre jüdische Kultur ist nur noch bruchstückhaft vorhanden. Sie überlebten, so wie auch ihre Mutter und Tante Gisella. Die anderen mussten der Mehrheit in den Tod folgen.
Wenn an Jahrestagen staatstragend über das Grauen berichtet wird, ist das oft nicht mehr als ein Symbol. Dem Erinnern hilft das nur bedingt. Die Aufzeichnungen der beiden Mädchen, die bei ihrer Deportation vier und sechs Jahre alt waren, geben mit nicht versiegender Wucht das eigentliche Leid wieder. Denn die Auswirkungen sind bis heute spürbar, beispielsweise, wenn Andra einen Güterzug über die Gleise rattern hört. Diese Gefühle kann niemand nachvollziehen. Es dauert Jahrzehnte bis die beiden Mädchen von damals – heute selbst Mütter und Omas – über das berichten konnten, was ihre Kindheit zerstörte. Sie reden auch und vor allem öffentlich darüber. Ihre Zeugnisse sind mehr wert als Trauerkränze und bedeutsame Reden. Selten zuvor wurden die Erlebnisse in Auschwitz so eindrücklich, so nah und so gefühlvoll dargebracht.