Rezension zu "Das Ende des Fadens" von Andrea Camilleri
Mit das "Ende des Fadens“ vollendete Andrea Camilleri das zweite Dutzend seiner Commissario Montalbano-Krimireihe. Mit 91 (!) Jahren, drei Jahre vor seinem Tod, setzte der begnadete Dramatiker und Autor seine Erfolgsgeschichte fort, aufgrund seiner Erblindung nun aber mit handwerklicher und kreativer Unterstützung von Valentina Alferj. Einige wenige Abenteuer werden folgen, die erst spät ins Deutsche übersetzt werden.
Zum Inhalt: Widerstrebend lässt sich Montalbano von seiner langjährigen On-Off-Beziehung Livia überreden, bei der umwerfend grazilen und geheimnisvollen Schneiderin Elena aus Vigàta einen Maßanzug für ein Familienfest zu fertigen. Trotz nur zweimaligem Treffen hegt Montalbano eine starke Hingabe zu Elena, als verbinde sie eine alte Zuneigung. So ist er tief erschüttert, als Elena erstochen mit einer Schere aufgefunden wird. Schnell geraten ihre Männerbekanntschaften ins Visier der Ermittlungen, die jedoch alle nicht so recht als Täter in Frage kommen. Die Wahrheit liegt auch viel weiter in der Vergangenheit und entpuppt sich erst spät, nämlich am Ende des Romans. Sehr untypisch für die übliche Aufklärungsarbeit des sonst agilen Commissarios, der bisher wesentlich aktiver verschiedenen Spuren nachjagte, von denen sich zum Schluss selbstverständlich nur eine als richtig herausstellte – oftmals mit einem Plottwist. Nun, inzwischen ist er über sechzig Jahre alt und die auffällig vielen ungesunden Gewohnheiten, eine Fülle an üppigen Gerichten in etlichen Einschüben und dem suchthaften Hang zum Kettenrauchen, zollen seinen früheren Fähigkeiten eines Superbullen mit Schlag bei attraktiven Frauen Tribut. Hinzu kommt hier der enorme Kraftakt, den ihm die Rahmenhandlung abverlangt. Geht es dabei um nichts Geringeres als die Bewältigung des täglichen Horrors, denen die Mitarbeiter des Kommissariats gegenüberstehen: der Inobhutnahme Geflüchteter von unzähligen Rettungsbooten aus dem Mittelmeer. Ein sozialpolitischer Hinweis auf eine menschliche Tragödie, die dieser Roman bereithält und ihn aus der Masse einer ordinären Urlaubslektüre emporhebt. Auf unmittelbarer Ebene lauern auch hier Verbrechen, die Montalbanos ganzer Aufmerksamkeit bedürfen. Trotz aller Herausforderungen gelingt es ihm, das Ende des Fadens in der Hand zu behalten. Dass er dabei öfter als früher Schwierigkeiten hat und sogar kapitale Fehler begeht, ist dadurch verzeihlich.
Wieder einmal sprüht der Einfallsreichtum Camilleris durch sämtliche Seiten des Romans. Der bunte Bilderreigen seines fiktiven Siziliens, in dem er aber dennoch schwerwiegende Realitäten wie die Umweltverschmutzung und die Veränderung der Natur anprangert, verleitet einen, sich genau an diesen geschichtsträchtigen Ort zu wünschen und das Meer und die Sonne auf der Haut zu spüren. Der Spannungsbogen ist erneut gekonnt gespannt worden und trägt als Brücke den Leser bis auf die letzte Seite. Allen Fans dürfte es eine Freude bereiten, dass die bekannten Nebenfiguren mit ihren skurrilen und stereotypischen Eigenschaften auch in diesem Roman vereint sind. Besonders gefallen dürften wieder die Slapsticks und Sprachverwirrungen Catarellas, dem chaplinhaften Pförtner des Kommissariats. Man merkt Camilleri an, dass er promovierter Dramaturg ist und die Kunst des Dialogschreibens in dem Tür-auf-und-zu-Theater seines Ensembles wie kaum ein anderer beherrscht. Er schafft es, die Spannung der Mordaufklärung hoch zu halten und trotzdem sehr humorvolle Episoden einzuweben, ohne dass er hier das Genre ins Komödienhafte verlässt. So ist die Schlagzahl seiner kurz gehalten Sätze mit verdichteten Informationen, den ständigen Ortswechseln und Szenenfolgen sehr hoch. Ein kleines Schmankerl ist auch ein Cameo-Auftritt Camilleris als Dottore, der als „feiner Mensch“ einem Verdächtigen Beruhigungsmittel verabreicht.
Novizen dieser Montalbano-Reihe empfehle ich, nicht mit diesem Fall zu starten. Dazu dürfte dieser dann doch zu stark durchkomponiert und zu verworren sein. Allen Wiederholungstätern lege ich diesen Montalbano sehr ans Herz.
Es ist eine menschliche Tragödie, dass jede Schaffenskraft ein Ende findet und bereits absehbar war, dass nicht mehr viele Abenteuer folgen werden. Ein Glück jedoch, dass Camilleri bis zum Ende seines Lebensfadens das Schreiben liebte und beim Schneidern seiner Bücher auf Schablonen verzichtete.
Buonanotte!