Andrea Giovene

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Lebenslauf

Andrea Giovene (1904–1995) war Spross der neapolitanischen herzoglichen Familie der Girasole, die sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Er besuchte eine Klosterschule und wurde nach dem Studium Autor. Als Kavallerieoffizier im Zweiten Weltkrieg geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft und war Zwangsarbeiter in Norddeutschland. Seine Romanfolge Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (5 Bände zwischen 1966 und 1970) war ein sensationeller Erfolg, wurde preisgekrönt, für den Nobelpreis nominiert und in verschiedene Sprachen übersetzt. Jetzt erscheint sie erstmals vollständig auf Deutsch. 

Quelle: Verlag / vlb

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Neue Rezensionen zu Andrea Giovene

Cover des Buches Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (ISBN: 9783869712673)
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Rezension zu "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero" von Andrea Giovene

Nicolai_Levin
Arkadien ist immer woanders

Der dritte Band der Autobiografie des Giuliano Sansevero fällt ein bisschen aus der Reihe, da er eine räumlich und zeitlich klar abgeschlossene Episode umschreibt.

1933. In Italien kein so großes Umbruchjahr wie bei uns. Giuliano hat völlig unverhofft von einem Onkel Ländereien in Kalabrien geerbt. Als er sie besichtigt, kommt er auch zu einem ausgedehnten Hain von Olivenbäumen in dem abgelegenen Dörfchen Licudo, das nur per Meer oder über einen schmalen Maultierpfad zu erreichen ist. Hier, weit ab von allem, beschließt er, sich niederzulassen und innerhalb von sechs Monaten das titelgebende 'Haus der Häuser' zu bauen. Doch in dem verschlafenen Fischer- und Bauerndorf ticken die Uhren anders: Steine sind knapp, Arbeitskräfte und Transportesel auch. Aus den sechs Monaten werden fünf Jahre, in denen Giuliano, den sie in ihrem kalabrischen Dialekt "Don Giulì" nennen, den Fortgang der Bauarbeiten beobachtet und in den Mikrokosmos des Dorfes eintaucht. 

Bald muss er erkennen, dass in dem Maße, in dem er von den Dorfbewohnern akzeptiert wird, er selbst Bestandteil dieser Dorfgesellschaft wird, die bei näherem Hinsehen natürlich von ihrer naiven Idylle verliert und die ganz normalen komplexen Konflikte und Probleme bereithält, die menschliches Zusammenleben eben so mit sich bringt.

Dazu trägt auch Giuliano selbst bei, der einige Leute unterstützt (andere nicht) und sich der Faszination eines sehr, sehr jungen Mädchens (zu Beginn ist sie elf) hingibt. Kannte Giovene eigentlich 'Lolita'? Bestimmt kannte er 'Lolita'! Zu sehr ist die gefährdete Unschuld des schönen Kindes hier symbolhaft und passend platziert.

Ebenso symbolhaft das Ende: Als endlich nach vielen Jahrzehnten kommunalpolitischen Zankes das Dorf eine richtige Zufahrtsstraße erhält, bricht das ökonomisch-soziale Gleichgewicht zusammen. Die Grundstückspreise spielen verrückt, das Dorfgefüge wird in den Grundfesten erschüttert, und als die deutschen Nazis noch eine KdF-Erholungssiedlung an den Ortsrand bauen, schwappt der Tourismus in einer brutalen Welle über das erschrockene Süditalien.

Giuliano hat es gut, der ist vergleichsweise reich und kann seiner Wege ziehen ...

Wie gesagt, dieser dritte Band ist besonders: Die persönliche Entwicklung des Helden steht hier weniger im Vordergrund als das Schaustück, die Zerstörung des Paradieses, das nie eines war. Ich war zu Beginn sehr skeptisch, ob ich mehrere hundert Seiten um den Bau eines Einfamilienhauses lesen wollte, aber diese Sorge hat sich als komplett unbegründet herausgestellt.

Cover des Buches Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (ISBN: 9783869712666)
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Rezension zu "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero" von Andrea Giovene

Nicolai_Levin
Gibt es einen Weg? Und wo führt er lang?

Im zweiten Band der "Autobiographie des Giuliano Sansevero" von Andrea Giovene beginnt sich die Lebensgeschichte des Helden von der seines Schöpfers (soweit ich die auf Wikipedia nachvollziehe) an einigen Stellen zu trennen. In "Die Jahre zwischen Gut und Böse" löst sich Giovene vom Korsett des Authentischen und nimmt sich die Freiheit, die Geschehnisse nach literarischen Notwendigkeiten und persönlichem Gusto zu schildern. Dem Buch bekommt das gut, nach den etwas zögerlichen Kindheits- und Jugendjahren schöpft Giovene hier aus dem Vollen.

Zunächst folgen wir Giuliano Sansevero nach Mailand. Er hat seine Familie ziemlich überraschend verlassen, sein Studium in Neapel war ohnehin reiner Schein. Nachdem er etwas ziellos herumirrt, versucht er, seinen Lebensunterhalt als Journalist zu bestreiten, ein vielversprechendes Zeitschriftenprojekt steht in den Startlöchern. Giuliano ist völlig mittellos und lebt von der Hand in den Mund. Allerdings blockieren politische Kabale den Erfolg, Giuliano Sansevero muss sich für einen Artikel mit einem Portrait des Städtchens Peschiera rechtfertigen, der den faschistischen Kulturbürokraten nicht heroisch genug ausfällt. In seiner kleinen Pension lebt er Tür an Tür und dicht an dicht mit Prostituierten und Kleinkriminellen. 

Als die Zeitschrift endgültig scheitert, empfiehlt ihm sein Onkel, endlich den Militärdienst abzuleisten und so begibt sich Giuliano nach Ferrara am Po, als Offiziersanwärter in einem elitären Kavallerieregiment. Er fügt sich in den Drill und die strenge Alltagsroutine, arrangiert sich mit unangenehmen Vorgesetzten und beginnt eine Affaire mit einer verheirateten Frau, mit deren gehörntem Ehemann er sich sogar standesgemäß duelliert. 

Alles wäre bereit für eine klassische Karriere in der Armee, doch Giuliano entscheidet sich dagegen und geht stattdessen nach Rom, wo er in seltsame Kreise gerät: Im dubiosen Palazzo Grilli bezieht er ein Zimmer, seine Mitbewohner sind bohèmehafte Aristokraten, Kunsthistoriker, Dichter. Giuliano wird in philosophische Diskussionen gezogen und findet sich in merkwürdigen Dreieckskonstellationen wieder - erotischer und intellektueller Natur. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Übersetzungen und dem Ghostwriting für akademische Abschlussarbeiten der unterschiedlichsten Fachrichtungen. Er spürt, wie ihm die negativen Einflüsse seiner Umgebung zusetzen und ihn abarbeiten und flieht schließlich nach Paris. 

Hier findet er ein bequemes Auskommen als Cicerone für eine Gruppe peruanischer Millionärssöhne und verlebt sorglose Zeiten. Er hat eine Beziehung zu einer englischen Schauspielerin und genießt das pulsierende Paris der Zwischenkriegszeit. Als die Peruaner wieder nach Hause müssen und Giulianos Vater stirbt, reist er nach Neapel zurück.

Wer den zweiten Band von Giovenes "Autobiographie" liest, wird nicht mehr auf den Gedanken kommen, ihm mit Tomasis "Leoparden" zu vergleichen. Jedes der fünf Kapitel, jede Station ist eine Geschichte für sich, auch der Stil und selbst der Charakter des Giuliano scheint jedesmal ein anderer zu sein. Der aufstrebende Journalist aus Mailand, Kind seiner Zeit, wird zu dem jungen Offizier aus altem Hause, bei dem ich an Joseph Roths Familie Trotta denken muss oder an die armen Teufel bei Stefan Zweig und Arthur Schnitzler, seltsamerweise alles Gestalten aus Kakanien. Die schwüle Atmosphäre Roms im Palazzo Grilli lässt an Angelsächsisches denken: Henry James kommt in den Sinn oder E M Forster - grübelnde Gestalten in einer götterdämmerlichen Stimmung. Ganz anders Paris, das frisch lebt und lärmt, ein hedonistisches turbulentes Paradies. Und am Ende entkommt Giuliano doch nicht dem Familienschicksal und landet wieder im Neapel seiner Onkel, Tanten und Vorväter an.

Angelehnt an die Lebensstationen Giovenes finden wir hier unzweifelhaft eine ganze Menge an literarischer Formung und Gestaltung. Viel Reflexion, aber keine Thesen, das Thema ist die Suche nach dem geeigneten, nach dem richtigen, dem glückversprechenden Leben des Helden. Immer wieder erliegt er dem Idealbild einer Frau, das dann von der schnöden Wirklichkeit verwischt wird. Er hat kein Ziel, kein Ideal, er treibt von Station zu Station, schöpft aus den Facetten des Lebens und vielfältigen Begegnungen, die er reflektiert und verarbeitet. Giovene weigert sich, diesem Heldenleben ein Motto zu geben, ein Thema, ein erklärtes Ziel - und darin liegt eine eigene Methode, eine Philosophie der Demut, eine quasi augustinische Proklamation des eigenen Scheiterns und permanenten Neubeginns. Und das auf bemerkenswertem stilistischen Niveau.

Cover des Buches Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero (ISBN: 9783869712659)
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Rezension zu "Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero" von Andrea Giovene

Nicolai_Levin
Das ist kein Leopard

Die Lebensgschichte eines Mannes aus einer uralten süditalienischen Adelsfamilie, die verarmt ist und ihre beherrschende Stellung verloren hat. Aha!, rufen alle, der Leopard!

Andrea Giovenes monumentale, fünfbändige Erzählung der "Autobiographie des Giuliano Sansevero", speziell der erste Teil, tut sich schwer mit den erdrückenden Vorurteilen und der Enttäuschung derer, die dann doch keinen zweiten Aufguss des "Leoparden" von Tomasi di Lampedusa vorfinden.

Denn Giovenes Erzählung ist ganz anders. Nicht spöttisch und distanziert, sondern geradlinig und aufrichtig. Sein Held, Alter Ego seines Schöpfers, wird durch die wilden Zeiten des zwanzigsten Jahrhunderts gespült und sucht nach dem richtigen Leben. Giovene ist insofern vielleicht näher bei Petrarca und Dante und Augustinus als bei Tomasi und den anderen italienischen Nachkriegsautoren. Zugleich scheint er seiner Zeit voraus mit seinem konsequent autobiografischen Thema. Aber egal, ob zu früh oder zu spät: Als der "Sansevero" Ende der 1960-er Jahre erschien, war er einfach nicht zeitgemäß, die Lebensbeichte eines alten Konservativen aus großer Familie in geschliffenem Italienisch wollte damals zunächst keiner lesen, zu jener Zeit hatte man jung und rebellisch und proletarisch zu sein! Die italienische Literaturkritik hat dann die Qualität des Werkes doch noch erkannt, in Deutschland kommen wir erst jetzt in den vollen Genuss mit der Ausgabe in der Übersetzung von Moshe Kahn.

Der Bezug zu Tomasis Leoparden lässt sich nachvollziehen, denn speziell im ersten Band "Ein junger Mann aus Neapel" spitzt das Wesen und das wahre Gesicht des Gesamtwerks noch nicht so richtig durch. Wir erfahren von der Familie Sansevero aus Neapel, der Vater hat den Herzogstitel geerbt und schafft es, als Architekt und Bauunternehmer den unvermeidlichen Niedergang der Familie noch einmal aufzuhalten. Er verdient viel Geld, so viel, dass es fast reicht, den aristokratischen Lebensstil mit rauschenden Festen, Diners und einer ganzen Reihe von Hausangestellten zu finanzieren und die Leidenschaft fürs Kunstsammeln dazu. Der kleine Giuliano lernt sich in dem komplexen Familiensystem mit Geschwistern, Onkeln, Tanten, angeheirateten Cousinen, unverzeihlichen Fehltritten und schwarzen Schafen zurechtzufinden.

Er lebt sehr zurückgezogen im elterlichen Palazzo, bis der Vater beschließt, ihn ins Internat zu geben. Im Benediktinerkonvent lernt er die Einordnung in strenge Abläufe und Hierarchien, doch seine Intelligenz erlaubt es ihm, dort einigermaßen zurechtzukommen. Nach vier Jahren wird er zurückgeholt und besucht die höhere Schule in Neapel, begegnet erstmals "normalen" Leuten aus bürgerlichem Milieu, und der Vater überträgt ihm als Jüngling die unerfüllbare Aufgabe, seine Firmen zu führen, während er selbst auf Reisen ist. So erkennt Giuliano aber die finanziell hoffnungslose Situation, zumal eine Tante ihr erhebliches Vermögen ihrem Liebhaber zukommen lässt statt der Familie - und die erhoffte Rettung ausbleibt.

Giovene schreibt elegant und klug. Er ist ein feiner Beobachter, die Hintergründe der Zeit (der erste Weltkrieg aus italienischer Perspektive, das Erstarken der Faschisten, die Sympathien des Vaters für Mussolini) werden geschickt verwoben. Insofern liest es sich interessant, auch wenn wir die Internatsleiden Halbwüchsiger und die erste Liebe weltfremder Literaten natürlich schon vielfach anderswo serviert bekommen haben. Als Solitär wäre dieser erste Band nett zu lesen, aber kein Ereignis, aber er dient ja nur als Auftakt für das, was folgt!

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