Wenn Cross Cult Stuck Rubber Baby veröffentlicht, eine großartige Graphic Novel über einen jungen Mann, der homosexuell ist, es aber nicht sein darf und nicht sein will, zur Zeit der US-Bürgerrechtsbewegung in den frühen 1960er Jahren, dann darf gefragt werden: Was hat das mit dem Hier und Jetzt zu tun?
Howard Cruse heißt der Mann hinter diesem Comic, einer der großen US-Independent-Altmeister wie Robert Crumb oder Harvey Pekar. Obwohl seine Geschichte über den jungen Toland Polk fiktiv ist, erzählt Cruse ständig von sich selbst, von seinen eigenen Erlebnissen und seinen eigenen Problemen. Wie jede gute Erzählung mit autobiographischem Einschlag ist Cruse dabei selbstkritisch bis ins Mark.
Die unzähligen Details und die den Leser fast überfordernde Anzahl an handelnden Figuren sind Anzeichen dafür, dass das alles tatsächlich so irgendwie passiert ist, damals, in den Sechzigern, in den USA. Aber was hat das mit uns zu tun? In Deutschland und in anderen westlichen Ländern sind gleichgeschlechtliche Ehen inzwischen möglich. Viele Menschen, die im Rampenlicht stehen, bekennen sich offen zu ihrer Homosexualität. Die Bürgerrechtsbewegung liegt fünfzig Jahre in der Vergangenheit, auf einem anderen Kontinent. Und der letzte Präsident der USA war schwarz. Wurde Stuck Rubber Baby von der Zeit überholt?
Verändern wir für einen Moment den Blickwinkel. Stuck Rubber Baby wurde in Deutschland zum ersten Mal 1995 veröffentlicht, damals bei Carlsen unter dem Titel Am Rande des Himmels. Das war zwar gezwungen poetisch, jedoch fern jeglicher Übersetzung. Dabei ist der Originaltitel ein Schlüssel zum Verständnis von Cruse‘ Werk.
Es gibt da diese Szene, in der Toland Polk mit seiner Freundin Ginger schlafen möchte, ein Kondom aus der Tasche holt und feststellt, dass es alt und eingetrocknet ist. »Selbst eine Herde Elefanten hätte es nicht aufrollen können.« Getrocknet und zusammengeklebt – das ist das Stuck Rubber. Zum Geschlechtsverkehr kommt es nicht. Stattdessen gesteht Toland seiner Freundin, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Er macht damit einen ersten Schritt in Richtung Coming-Out, hin zu Wahrheit und Veränderung.
Wenn Cruse das alte Gummi zum Titel des gesamten Comics erhebt, wird daraus ein Symbol. Natürlich ist mit Stuck Rubber Baby die Hauptfigur Toland Polk gemeint – der wiederum das Alter Ego des Autors selbst ist. Aber dieses Eingetrocknete, Unbewegliche, jeglichen Schritt zur Liebe Verhindernde steht auch als Zeichen für den jungen Weißen, der den Kampf der Bürgerrechtsbewegung mehr passiv als aktiv erlebt, der das Risiko scheut, denn es ist ja nicht sein Kampf. Er ist lieber Zaungucker, Teil einer Gesellschaft, die feststeckt und unbeweglich geworden ist. Veränderer, das sind die anderen.
Und so verbringt Toland Polk in diesem Buch ein unglückliches, nachdenkliches Leben zwischen Selbstverleumdung, Angst und Zweifeln. Was er ist, will er nicht sein. Was er sein sollte, könnte er nachlesen. Und zwar im Dixie Patriot. In dieser rechtsradikalen Zeitung steht, was einen guten Amerikaner in den 1960ern angeblich ausmacht. Er ist nämlich weder schwul noch schwarz. Toland duckt sich unter dieser Disziplinierung weg, taucht ab, ist zu ängstlich, um dagegen aufzubegehren.
Er ist nicht das heldenhafte Individuum, das sich gegen ein ungerechtes System wehrt. Er ist das eingeschüchterte Individuum, das versucht, sich mit einem ungerechten System zu arrangieren. Und trotzdem auf die große Veränderung hofft. In der Darstellung dieses Zwiespalts ist Stuck Rubber Baby zeitlos und universell. Ein subtiler und kraftvoller Apell, niemals einzutrocknen, sondern nach Liebe und Gerechtigkeit zu streben.