Rezension zu "Mein wilder Traum gegen die Zeit" von Dincer Gücyeter
Ungewöhnliche Formate lassen auf ungewöhnliche Inhalte schließen. Irgendwo zwischen DINA5 und DINA4 liegt und wiegt das Werk so ganz anders in der Hand und der erste Eindruck sagt: Was für ein wunderschönes Büchlein! Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich jemals ein Cover länger und immer wieder angeschaut habe: Ein fliegender Händler bietet seine Waren feil. Ein wildes und abenteuerliches Sammelsurium von allerlei Kurzwaren, angeboten in einem schäbigen Holzköfferchen.
Was der Tinnef einbringen mag, überlegt man - doch der Verkäufer verrät durch seine Körperhaltung nicht unbedingt Unzufriedenheit. Zudem lässt seine Kleidung ein, wie auch immer, relatives Auskommen vermuten. Herrliche Synonyme sind das, bezogen auf die Gesamtheit des Buches. Ich kann mich trotz aller Offensichtlichkeiten kaum losreißen von dem Bild, da sich immer neue Assoziationen bilden. Was mag dem Mann gerade so durch den Kopf gehen, was tut er sonst noch, wo geht er demnächst hin? Er wirkt so unglaublich zufrieden, auch wenn man sein Gesicht nicht sieht. Man möchte gerne einmal mit ihm sprechen und in dem Holzköfferchen herumsuchen, wie man es damals in Großmutters Küche in diesen geheimnisvollen Schubladen tat ...
Dann wären da noch diese Zeilen, die dem ganzen Szenario die Krone aufsetzen. Jene Zeilen aus dem Tagebuch eines "erfolglosen Dichters", welche dem Buch seinen Titel gaben. Verlag und Verleger haben sich verraten: Eindeutiger und eindringlicher kann man die Liebe zu Gedichten, und dem geschriebenen Wort überhaupt, nicht ausdrücken! Und wenn ich jetzt nicht aufpasse, schreibe ich einen Bericht nur über ein Buchcover.
Und wenn schon! Da die Rezi eh schon aus dem Ruder gelaufen ist, macht es gar nichts aus, wenn ich jetzt mit dem Nachwort weitermache. Dincer Gücyeter kommentiert ebenso eigensinnig wie kraftvoll die Entstehungsgeschichte dieses Gedichtbandes, welche bereits vor der Ausschreibung unter dem "knotenreichen Traum-Gewissens-Verstandeskonflikt" litt. Doch allen Hürden zum Trotz schaffte es der Gründer des "windelntragenden" Verlags, diesen Band zusammenzustellen. Mehr von der Entstehungsgeschichte will ich aber nicht verraten ...
... eher etwas von einer, die der "Sehnsucht Asyl gewährt". Astrid Lattisch ("Irgendwann", S.9) weiß, wohin das Leben zieht. Während man noch "Richtung Hoffnung" unterwegs ist, baut man mit Verena Blecher (S.10) ein ganz besonderes Haus, und erfährt sogleich von Andreas Glanz ("Der Sohn des Kuckucks", S. 11), wie unsicher es im eigenen Nest werden kann. Nicht mal mehr auf die eigene Mutter ist Verlass. Zum Kuckuck nochmal!
Wenn schon nach drei Gedichten eine derartige Bandbreite erreicht ist, sieht man sich genötigt, die Bioplatte zu defragmentieren, um Platz zu schaffen für das, was da noch kommen möge. Sabine Eva Rädisch kennt sich ebenso gut mit Erinnerungen ("Altes Haus", S. 16) aus, wie mit dem Herzschlag alter Häuser. Wer je in und mit alten Häusern gewohnt hat, erinnert sich sofort wieder an sie.
Eine "vielstimmige Sammlung" sollte es werden. Sie ist es und sie ist mehr als das. 49 Autorinnen und Autoren haben sich versammelt und packen ihre Wort-Schätze aus. Neben den bereits erwähnten existenziellen, bodenständigen oder gar humoristischen Ausrichtungen gibt es auch eine ganze Reihe Gewagtes. Aber auch hier ist die Bandbreite enorm, denn es kann sich sowohl um eine gewagte Form ("Ich muss mich ein bisschen wie Krieg fühlen") handeln, eine gewagte Frage ("Verliehene Flügel"), ein gewagtes Thema ("Orgie") oder einfach um den Mut, sich etwas anders auszudrücken ("Hört mich denn keiner die Möwen sehen?").
Das heißt aber nicht, dass uns Autorinnen wie Bernadette Grohmann-Németh nicht wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Na ja, eher an den Strand des Lebens: "... und dass ich dich zwischen den Muscheln hier fände" ("Sanduhrentraum", S. 51). Das weckt dann wieder nostalgische Gefühle, die entfernt an die wunderbare Leon Vandersee erinnern.
An gar niemanden erinnern mich im Gegensatz dazu Zeilen von Safiye Can, höchstens an den Typen, der mir dauernd im Spiegel begegnet:
"Ich sprach
in jeden Garten hinein
aus jedem hörte ich mich selbst heraus."
("Der Garten", S.64)
Am Ende und doch so mittendrin weiß ich nun gar nicht, wie ich zum Schluss kommen soll. Eine Brücke gilt es jetzt zu finden. Eine schöne Überleitung. Beiläufig klingen soll sie und wie zufällig aus dem Gesamtzusammenhang formuliert. Und schon merke ich, dass ich mich diesmal drücken muss. Als Moderator dieser Besprechung sollte ich eher den vornehmen Rückzug üben. Die Bühne verlassen, denn was gäbe es noch zu sagen? Einfach dieses wunderbare Buch auf einen Stuhl legen und im grellen Scheinwerferlicht zurücklassen, vielleicht.
Eine Idee hätte ich noch. Das Schlusswort delegiere ich einfach an Claudia Romes:
"Könnt ich mir den Moment erwählen, in dem ich gehen muss
So wäre es der des absoluten Glücks ..."
(Thomas Lawall auf "Amazon", 15.3.2014)