Tochter Ljuba kritzelt auf die Rückseite seiner Tabakdose: „28. Januar 1881. Papa starb viertel vor neun.“ Die Beerdigung von Fjodor Michailowitsch Dostojewkij drei Tage nach seinem Tod ist die größte, die es in Russland gegeben hat. Eine Zeitung berichtet, es seien mindestens 100.000 erschienen, um dem großen Dichter in seinem Petersburg die letzte Ehre zu erweisen. Darunter auffallend viele junge Menschen. Ein Kutscher fragt am Rande des kilometerlangen Trauerzuges: „Wer soll hier begraben werden? Ein General vielleicht?“ Ein Student erwidert: „Ein General? Oh nein – ein ehemaliger Sträfling! Er wurde vom Zar zur Zwangsarbeit verschickt, weil er die Wahrheit sagte. Glaubst Du vielleicht, wir wären zur Beerdigung eines Generals gegangen?“
Was hat diesen Schriftsteller, der das Gegenteil von einem leicht zu lesenden Bestsellerautor war, zu einem von der „Intelligenzija“ bewunderten und vom russischen Volk bis heute verehrten Mythos gemacht? Andreas Guski, Slawistik-Professor an der Universität Basel, gelingt in seiner meisterhaften Biographie das Kunststück, Dostojewskijs leidgeprüftes, widersprüchliches Leben und phänomenales Werk im Kontext des zaristischen Russland wissenschaftlich akribisch zu erschließen und trotzdem verständlich, ja packend zu erzählen und zu erklären.
Kaum hat der gerade 24 Jahre alte Militärleutnant mit seinem Briefroman „Arme Leute“ über Nacht die literarische Bühne erobert, scheint sein Leben bereits vor dem Ende zu stehen. Zum Verhängnis wird dem jungen Starautor sein Engagement im Petraschewskij-Kreis, einem Zirkel utopischer Sozialisten. Guski beschreibt die sadistische Scheinhinrichtung Dostojewskijs und seiner 20 Leidensgenossen am frühen Morgen des 22. Dezember 1849 bei minus 21 Grad auf dem Semjonow-Platz in Petersburg minutiös. Nach dem Verlesen der Todesurteile ist der inzwischen 27jährige Fjodor Michailowitsch Dostojewskij als sechster Delinquent an der Reihe. Die Soldaten legen die Gewehre an. Doch das Kommando „Feuer“ bleibt nach qualvoller Stille aus.
Dann verkündete man uns, schreibt Fjodor am selben Abend aus der Zelle an den geliebten Bruder Michail, „dass Seine Kaiserliche Hoheit uns das Leben schenkt.“ Für Dostojewskij ist die überraschende Begnadigung wie eine Wiedergeburt, obwohl ihn eine vierjährige Lagerhaft mit schwerster Zwangsarbeit und kaum zu ertragendem Schreibverbot in Sibirien erwartet. Über diese Leidenszeit hat Dostojewskij 1862 seine „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ veröffentlicht – ein früher Vorläufer von Alexander Solschenizyns bahnbrechendem „Archipel Gulag“ über ein Jahrhundert später.
In der zweiten Hälfte seines zehnjährigen Sibirien-Aufenthaltes, die Dostojewskij als gemeiner Soldat in fortgesetzter Unfreiheit verbringen „darf“, lernen wir auch die andere, die lebensgierige, leidenschaftlich liebende, unbeschwerte Seite Dostojewskijs kennen. Der niederländische Autor Jan Brokken erzählt in seinem schwungvollen Roman „Sibirische Sommer mit Dostojewski“ die ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem jungen, deutschstämmigen Baron Alexander von Wrangel und dem nach Sibirien verbannten, zwölf Jahre älteren Häftling Dostojewskij. Wenige Jahre nach dessen Verschickung reist auch der 20jährige Adelsspross, als Gymnasiast von seinem Zimmerfenster aus entsetzter Zeuge der Scheinhinrichtung, ins ferne Sibirien. Der Absolvent des Kaiserlichen Elite-Lyzeums soll dort für seine diplomatische Laufbahn vorbereitet werden.
Im entlegenen sibirischen Grenzgebiet Semipalatinks beginnt die intensive Freundschaft zwischen dem Schriftsteller, der nicht schreiben darf, und dem jungen Bezirksstaatsanwalt, der dem Verbannten sein hartes Los mit allen, nicht zuletzt finanziellen Mitteln erleichtern will. Hauptrefugium dieser Freundschaft wird das Sommerhaus, das der gut betuchte Aristokraten-Jüngling Alexander von Wrangel gemietet hat.
In diesem „Kosakengarten“ debattieren die beiden Idealisten nächtelang, lesen, essen, rauchen, gärtnern und trinken viel französischen Champagner zusammen. Vor allem aber trösten und beraten sie sich über ihre jeweiligen, zwischen Glück und Unglück schwankenden Liebesbeziehungen mit verheirateten Frauen. Nach der Begnadigung und Rehabilitation Dostojewskijs, die der angehende Diplomat und – im Geist seines Namensvetters Alexander von Humboldt – weltgewandte Forschungsreisende Alexander von Wrangel initiiert hat, trennen sich die Wege der beiden Freunde.
In seinen letzten 15 Lebensjahren erreicht Dostojewskij, der seine auf der Flucht vor den Gläubigern im europäischen Exil u. a. in Baden-Baden und Wiesbaden ausgetobte Spielsucht endlich überwunden hat, den Gipfel seines Schaffens, der gesellschaftlichen Anerkennung und überfälligen Ehrungen. Zwischen 1866 und 1880 erscheinen („was für eine Zuchthausarbeit!“) seine weltberühmten Romane „Verbrechen und Strafe“ (in der originalgetreuen Übersetzung von Swetlana Geier), „Der Idiot“ (1869), „Die Dämonen“ (1872), „Der Jüngling“ (1875) und schließlich – ein Jahr vor seinem Tod – sein literarisches Vermächtnis „Die Brüder Karamasow“ (1880).
Der letzten, zufälligen Begegnung der so ungleichen „sibirischen“ Seelenverwandten im Petersburger Herbst 1873 gilt Alexander von Wrangels alias Jan Brokkens ernüchternder Schlusssatz in diesem geschmeidigen Roman, der u. a. auf Originalbriefen, Memoiren, Dokumenten und Bilder der Ururenkelin Baron von Wrangels basiert: „Wir gaben einander die Hand, erkundigten uns nach der Gesundheit des anderen, warteten die Antwort nicht ab, gaben einander nochmals die Hand, verbeugten uns leicht und gingen wie Fremde auseinander.“
Der zeitlebens an Epilepsie leidende Dichter stirbt im Alter von 59 Jahren an einem Blutsturz nach einem Lungenemphysem. Am Morgen seines Todes sagt Fjodor Michailowitsch Dostojewskij zur geliebten Ehefrau: „Weißt Du, Anja, ich liege schon seit drei Stunden wach, denke die ganze Zeit nach und jetzt ist mir klar geworden, dass ich heute sterben werde.“ Am selben Mittwoch abend tritt der von seinem ganzen geliebten Russland betrauerte Tod eines der größten Schriftsteller aller Zeiten ein.
Joseph Weisbrod
Info: Andreas Guski: „Dostojewskij – Eine Biographie“. Verlag C. H. Beck. 2018. Gebunden. 460 S. 28 Euro. Jan Brokken: „Sibirische Sommer mit Dostojewski – Roman einer Freundschaft“. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Kiepenheuer & Witsch. 2018. 432 S. 22 Euro.