Cover des Buches Zeit der Zikaden (ISBN: 9783869131917)
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Rezension zu Zeit der Zikaden von Andreas Séché

Die Melodien von Syrakesh..

von lesenslust vor 10 Jahren

Rezension

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lesenslustvor 10 Jahren

Was reglos scheint, hebt vielleicht die Welt aus den Angeln.

Zitat, Seite 9

Wir reisen nach Mashkran, einem kleinen Ort weit unten im Süden Syrakeshs unlängst der Wüste. Es ist die Heimat von Selim und Miriam. Zwei Menschen, die das Leben zusammenbringt und deren Liebe so kraftvoll scheint, dass sie selbst Unmögliches bewegen kann.

Als der Schäfer Ibrahim eines Tages über seine Schafe wacht und zum Horizont aufsieht, erblickt er Selim, völlig erschöpft und am Ende seiner Lebenskräfte. Mit viel Fürsorge gelingt es Ibrahim den Fremden wieder zum Leben zu erwecken und wird dabei aufmerksamer Zuhörer von Selims Geschichte.

Die Geschichte, die ihm Selim erzählt, ist die von Syrakeshs Sturz in eine Diktatur; von den hingebungsvollen Klängen einer Geige und von der Liebe zu einer Frau. Von Menschen, deren Schicksalsschläge über die Zeit miteinander verwoben sind und deren Kraft & Entschlossenheit durch ein Akt der musikalischen Hingebung wieder zu entflammen scheint.

Ist Musik in der Lage Unmögliches zu bewirken? Kann das Gefühlskonzert einer Geige, die Menschen im Inneren derart berühren, dass sie; gelähmt von Gewalt; wieder zum Leben erwecken? Gibt es die bedingungslose Liebe zu einem Menschen, die durch das Unterbinden nur noch stärker wird? In Séchés Roman “Zeit der Zikaden” schon.

Zwei Strophen, aber nur eine Geschichte. Zwei Körper, aber nur eine Bewegung. Ein aufregendes Gemisch aus feinsinniger Zurückhaltung und archaischer Ungezügeltheit. Und die Muse, die diesen Lyriksturm in ihm entfesselte, ging direkt neben ihm.

Zitat, Seite 61

Séché, der mich seit “Zwitschernde Fische” und “Namiko und das Flüstern” zu einem Fürsprecher von poetischen und sanften Zeilen hat werden lassen und mich seitdem als Leser gewonnen hat, entführt mich in seinem dritten Roman nach Syrakesh. Einem arabischen Eiland, das zum einen öde Wüstenlandschaft als auch fruchtbares Land beherbergt. Ein Inselparadies, das durch Zeiten von Not und Gewalt wandern muss und das die Heimat von Selim und Miriam, den Protagonisten, darstellt.

Zugegeben, zu Beginn der Geschichte geriet ich ins Holpern. Ein Ergebnis, das nicht auf den schwierigen Aufbau der Geschichte sondern vielmehr auf die Komplexitität des Romans zurückzuführen ist. Ich musste feststellen, dass es sich hier um keine leicht zu lesende Fabel handelt (was man beim Blick auf das Cover vermuten könnte) sondern vielmehr um eine Landesgeschichte mit politischem Hintergrund. Ich mag nicht auf den Kopf gefallen sein, sehe mich aber dennoch nicht als Leuchte in diesem Metier. Ich hab daher mehr Zeit als üblich benötigt, um mit dem Roman warm zu werden. Seite um Seite wurde mir jedoch die Bedeutung der Zeilen klar und es gelang mir, mich ganz auf sie einzulassen. Ich vermute, dass Séchés Hintergrund in der Politikwissenschaft dazu beigetragen hat, dass das Buch so politisch geworden ist, ihm damit aber auch an Tiefe und Reife verlieh.

Und nun, ohne seine Stützen, rang der Despot mit dem Gleichgewicht, starrte fassungslos direkt in Selims Gesicht, der in diesem Moment den letzten Ton des Totentanzes verklingen ließ und dann die Violine einfach weiter hielt, als gehöre die anschließende absolute Stille noch mit zum Spiel.

Schwankend setzte der Diktator einen Fuß nach vorne und stieß, überrascht von der plötzlichen Schwierigkeit schlichten Vorankommens, einen Laut zwischen Bestürzung und Wut aus. Noch während er zu einem weiteren Schritt ansetzte, zeichnete sich in seinem Gesicht ab, dass er damit scheitern würde.

Zitat, Seite 140

Es gibt sie tatsächlich, die Zeilen, die dir wohlwollend eine Welle von Gänsehaut über den Körper wandern lassen. Sätze, die dich derart entzücken, dass dich ihr poetischer Zauber umschmeichelt wie ein mit tausend Federn gefülltes Kissen und die in dir unendlich lange nachklingen wie Melodien des Lebens. Séché ist ein Magier. Ein Magier der Worte. Es gelingt ihm ein Buch mit derart vielen schönen Zeilen zu füllen, dass du während des Lesens schon fast mehr Zeit damit verbringst, sie dir zu notieren, als mit dem Lesen selbst. Er scheint uns tief in unserem Herzen treffen zu wollen anstatt uns nur eine Geschichte zu erzählen. Die Musik, die in diesem Roman eine unendlich große Rolle spielt, scheint uns die Welt zu eröffnen. Sie wirbelt uns Melodien voller Kraft & Lebensgier um die Ohren und tanzt sich klangheimlich in unser Herz.

Plötzlich war der ganze Saal ein gewaltiger Wirbel aus tanzenden Körpern, ein schwindelerregender Rausch aus wonnetrunkenen Männern, Kindern und Frauen, deren wehende Tücher auf einmal wie Flügel zu sein schienen, und mittendrin, im Herzen dieses Strudels, stand Selim und spielt. Spielt, als gelte es, alle Verzückung dieser Welt zu entfesseln.

Zitat, Seite 137

Selim, der von seinem Geigenlehrer Arif nicht nur lernt, eine Geige zu spielen, sondern auch zu bauen, strotzt selbst in Zeiten von Not und Entkräftigung nur so von Kraft. Der Protagonist wird von Séché so liebevoll gezeichnet, dass man ihn schon nach wenigen Zeilen in sein Herz schließt. Seine Liebe zu Miriam erhält ihn am Leben und begleitet ihn auf seiner langen schier unendlichen Reise in eine bessere Welt. Die Hoffnung eine eben solche Liebe selbst irgendwann erfahren zu dürfen, scheint nach dem Lesen dieses Romans unausweichlich zu entflammen. Ganz großes Kino lieber Herr Séche!

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